Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen erreicht in Deutschland einen kritischen Punkt, der die gesamte Branche und damit die Grundversorgung der Bevölkerung gefährdet. Eine aktuelle Analyse des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (Kofa) des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) verdeutlicht die Dringlichkeit: Im Jahresdurchschnitt 2023/2024 blieben rund 47.400 Stellen in der Gesundheitsbranche unbesetzt. Die Engpässe konzentrieren sich auf Berufe wie Physiotherapeuten, zahnmedizinische Fachangestellte und Pflegekräfte. Allein Physiotherapeuten verzeichneten fast 11.600 offene Stellen, während in der Gesundheits- und Krankenpflege über 7.100 Positionen unbesetzt blieben. Diese Zahlen unterstreichen die strukturelle Krise in einem Sektor, der für das Funktionieren der Gesellschaft unverzichtbar ist.
Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielschichtig. Der demografische Wandel spielt eine zentrale Rolle: Eine alternde Bevölkerung führt zu einem steigenden Bedarf an medizinischen Dienstleistungen, während die Zahl der Fachkräfte stagniert oder sogar sinkt. Parallel dazu tragen hohe Arbeitsbelastung, niedrige Löhne und mangelnde Anerkennung vieler Gesundheitsberufe dazu bei, dass der Nachwuchs ausbleibt. Viele junge Menschen meiden diese Berufe oder wechseln frühzeitig in andere Branchen.
In der Pharmazie zeigt sich eine ähnliche Dynamik. Apotheken, die als erste Anlaufstelle für medizinische Beratung und Versorgung dienen, leiden ebenfalls unter dem Fachkräftemangel. Zwar werden Apothekenberufe in der Kofa-Studie nicht separat aufgeführt, doch die Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit hebt hervor, dass Apotheker und Pharmazeutisch-Technische Assistenten (PTA) im Jahr 2023 zu den am dringendsten gesuchten Berufsgruppen zählten. Der Mangel betrifft sowohl städtische als auch ländliche Apotheken, wobei die Situation in weniger dicht besiedelten Regionen oft dramatischer ist. Viele Betreiber berichten von Schwierigkeiten, offene Stellen überhaupt noch mit qualifiziertem Personal besetzen zu können.
Die Auswirkungen sind gravierend. In Apotheken führt der Personalmangel zu verkürzten Öffnungszeiten, längeren Wartezeiten und einer eingeschränkten Verfügbarkeit von Dienstleistungen wie Medikationsanalysen oder Impfberatungen. Hinzu kommt, dass bestehende Teams durch Überstunden und gestiegene Arbeitslast an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Dies erhöht nicht nur das Risiko von Burnout und Fehlzeiten, sondern gefährdet langfristig die Qualität der Patientenversorgung.
Besonders besorgniserregend ist die Kettenreaktion, die der Fachkräftemangel auslöst. Wie Kofa-Experte Philipp Herzer warnt, hat die Lücke im Sozial- und Gesundheitswesen Auswirkungen auf viele andere Branchen. Wenn Eltern gezwungen sind, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, weil Kitas oder Pflegeheime personell unterbesetzt sind, verschärft dies den Mangel in anderen Bereichen wie dem Einzelhandel, der Industrie oder der Verwaltung.
Während einige Fortschritte erzielt wurden – etwa durch die erleichterte Anerkennung ausländischer Qualifikationen oder Initiativen zur Förderung von Ausbildungsplätzen – bleibt die Situation angespannt. Der Fachkräftemangel ist trotz leichter Entspannung gegenüber dem Vorjahr mit durchschnittlich 532.000 fehlenden qualifizierten Arbeitskräften branchenübergreifend auf einem historisch hohen Niveau.
Für Apothekenbetreiber sind diese Entwicklungen besonders herausfordernd. Sie müssen nicht nur Fachpersonal gewinnen und halten, sondern auch innovative Lösungen finden, um den Betrieb unter den aktuellen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Maßnahmen wie die Einführung digitaler Systeme zur Entlastung der Mitarbeiter, die verstärkte Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen und gezielte Anreize für Berufseinsteiger könnten den Druck mindern. Doch ohne nachhaltige politische Unterstützung wird dies allein nicht ausreichen.
Kommentar:
Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist nicht nur eine wirtschaftliche Schieflage, sondern eine fundamentale Bedrohung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland. Besonders Apotheken stehen im Zentrum dieser Problematik, da sie die Grundversorgung der Bevölkerung mit Medikamenten und Beratung sicherstellen. Während Krankenhäuser und Pflegeheime oft im Fokus der politischen Debatten stehen, wird die Rolle der Apotheken in der Gesundheitsinfrastruktur häufig unterschätzt – eine gefährliche Fehleinschätzung.
Die Ursachen des Fachkräftemangels sind lange bekannt: unattraktive Arbeitsbedingungen, hohe Belastung und geringe gesellschaftliche Wertschätzung. Doch trotz zahlreicher Studien und Warnungen sind die politischen Maßnahmen bisher nicht ausreichend, um dem Problem effektiv zu begegnen. Die Reduktion von Bürokratie, die gezielte Förderung von Ausbildungsplätzen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sind dringend notwendig, um das Berufsbild aufzuwerten. Besonders für die Pharmazie müssen spezifische Anreize geschaffen werden, um den Beruf für junge Menschen attraktiver zu machen. Dazu gehört auch die Integration von Weiterbildungsmöglichkeiten und Karriereperspektiven, die über das klassische Apothekenumfeld hinausreichen.
Doch es wäre naiv, die Verantwortung allein der Politik zuzuschreiben. Auch die Branche selbst muss handeln. Apothekenbetreiber müssen ihre Rolle als Arbeitgeber kritisch hinterfragen und neue Wege gehen. Flexible Arbeitszeitmodelle, familienfreundliche Strukturen und digitale Innovationen könnten dazu beitragen, das Arbeitsumfeld attraktiver zu gestalten. Gleichzeitig sollten sie stärker auf Kooperationen setzen, um Synergien zu nutzen und den Arbeitsdruck zu reduzieren.
Der Fachkräftemangel ist kein isoliertes Problem des Gesundheitswesens, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Wenn Apotheken nicht mehr in der Lage sind, ihre zentrale Rolle im Gesundheitssektor auszufüllen, wird dies spürbare Konsequenzen für die Patientenversorgung haben. Es ist höchste Zeit, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam handeln, um eine nachhaltige Lösung zu finden. Denn eines ist klar: Ohne ausreichend qualifiziertes Personal bleibt jede Reform im Gesundheitswesen ein Stückwerk.
Von Engin Günder, Fachjournalist