Mit dem Alter verändert sich nicht nur der Körper, sondern auch das Sozialverhalten – bei Tieren genauso wie bei Menschen. Eine aktuelle Studie der Universität Leeds, geleitet von dem Verhaltensökologen Dr. Josh A. Firth, zeigt, dass Tiere im höheren Lebensalter gezielt ihre sozialen Kontakte reduzieren. Diese Entwicklung, die unter anderem bei Rothirschen, Haussperlingen und sogar Fruchtfliegen beobachtet wurde, hat eine klare Funktion: Sie dient der Minimierung von Gesundheitsrisiken, insbesondere der Ansteckungsgefahr durch Krankheiten. Was zunächst wie ein Rückzug wirkt, ist in Wahrheit eine evolutionär geprägte Überlebensstrategie.
Die Studie untersuchte das Verhalten von Rothirschen und kam zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Mit zunehmendem Alter reduzieren die Tiere den Kontakt zu ihren Artgenossen und werden weniger gesellig. Während jüngere Tiere von Gruppenstrukturen profitieren, etwa durch Schutz und den Austausch von Wissen, verändert sich die Priorität bei älteren Individuen. Sie setzen auf Selbstschutz, indem sie die Wahrscheinlichkeit einer Krankheitsübertragung verringern. Laut Dr. Firth ist dieses Verhalten kein Zufall, sondern eine natürliche Anpassung, die das Überleben im späteren Lebensabschnitt sichert.
Auch bei Haussperlingen lässt sich ein ähnliches Muster erkennen. Ältere Vögel verkleinern ihren Freundeskreis und verlieren an Bedeutung in ihren sozialen Netzwerken. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen sterben gleichaltrige Artgenossen, was den Kreis natürlicherweise reduziert. Zum anderen verringert sich der Nutzen sozialer Beziehungen im Alter, da ältere Tiere nicht mehr auf den Wissens- oder Schutztransfer innerhalb der Gruppe angewiesen sind. Der Aufwand, neue Kontakte zu knüpfen, übersteigt häufig den potenziellen Nutzen.
Bemerkenswert ist, dass dieses Phänomen auch bei wesentlich einfacheren Lebewesen, wie Fruchtfliegen, auftritt. Die Studienautoren sehen darin ein universelles biologisches Prinzip, das unabhängig von der Komplexität des Organismus auftritt. Die Forscher betonen, dass die Beobachtung sozialer Verhaltensmuster in Tierpopulationen eine hervorragende Möglichkeit bietet, grundlegende Mechanismen des Alterns und deren Auswirkungen zu untersuchen.
Die Wissenschaftler plädieren dafür, das soziale Altern – also die Veränderungen in den sozialen Strukturen und Verhaltensweisen im Alter – stärker in den Fokus zu rücken. Es unterscheidet sich vom biologischen Altern, das die physischen Veränderungen betrachtet, und bietet wertvolle Einblicke in das Kosten-Nutzen-Verhältnis von sozialen Interaktionen in unterschiedlichen Lebensphasen. Der interdisziplinäre Ansatz könnte sowohl evolutionäre als auch ökologische Erkenntnisse über das Altern, die Widerstandsfähigkeit und die Anpassungsstrategien von Lebewesen liefern.
Diese Erkenntnisse könnten auch auf den Menschen übertragen werden, da sie eine neue Perspektive auf die Frage bieten, warum ältere Individuen – ob Mensch oder Tier – sich oft aus sozialen Gefügen zurückziehen. Es ist weniger eine Folge von Isolation, sondern vielmehr ein bewusster Schutzmechanismus, der das Wohlbefinden und die Gesundheit in den Vordergrund stellt.
Kommentar:
Der Gedanke, dass ältere Lebewesen bewusst soziale Kontakte reduzieren, um Risiken zu minimieren, wirft ein neues Licht auf das Phänomen des Alterns. Oft wird der Rückzug im Alter bei Menschen und Tieren gleichermaßen als Schwäche oder Verlust interpretiert. Doch die Ergebnisse der Universität Leeds laden dazu ein, diese Sichtweise zu hinterfragen.
Es zeigt sich, dass das Altern nicht nur durch biologischen Verfall geprägt ist, sondern auch durch soziale Anpassungen, die das Überleben sichern können. Tiere, die ihre Kontakte reduzieren, gehen strategisch vor: Weniger Interaktion bedeutet weniger Ansteckungsgefahr, was besonders im höheren Alter mit schwächerem Immunsystem von großer Bedeutung ist. Dieser Rückzug ist keine Niederlage, sondern eine kluge, evolutionär geprägte Entscheidung.
Für den Menschen bietet diese Erkenntnis eine wichtige Perspektive. Anstatt die soziale Zurückhaltung im Alter zu stigmatisieren, könnte sie als natürliche Entwicklung anerkannt werden. Der Wunsch nach Ruhe, Selbstschutz und selektivem Umgang mit sozialen Kontakten ist kein Defizit, sondern Ausdruck einer veränderten Lebenspriorität.
Zudem werfen die Studienergebnisse Fragen auf, wie Gesellschaften mit dem Alter umgehen. Während bei Tieren die Reduktion sozialer Interaktionen häufig unproblematisch ist, wird sie beim Menschen oft negativ bewertet. Doch gerade in einer alternden Gesellschaft könnten wir von Tieren lernen, dass weniger oft mehr ist – mehr Gesundheit, mehr Anpassung, mehr Überlebensfähigkeit.
Der Ansatz, soziale und biologische Aspekte des Alterns interdisziplinär zu betrachten, ist vielversprechend. Solche Forschungen könnten nicht nur helfen, die Dynamiken in Tierpopulationen besser zu verstehen, sondern auch wertvolle Impulse für den Umgang mit dem Alter beim Menschen geben. Statt Einsamkeit zu befürchten, könnten wir den Rückzug im Alter als einen Schritt zu mehr Selbstbestimmung und Schutz anerkennen. Alter bedeutet nicht Stillstand, sondern eine neue Form der Anpassung – und das gilt für Tiere ebenso wie für uns.
Von Engin Günder, Fachjournalist