Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind mit rund 348.000 Todesfällen pro Jahr die häufigste Todesursache in Deutschland. Trotz Fortschritten in der medizinischen Versorgung bleibt die Prävention solcher Erkrankungen eine der größten Herausforderungen des Gesundheitswesens. Angesichts dieser Realität sucht ein interdisziplinäres Forschungsteam der Technischen Universität Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover nach neuen Wegen, die Gesundheitsüberwachung möglichst frühzeitig in den Alltag der Menschen zu integrieren – konkret in die tägliche Autofahrt. Das Projekt, das als „SmartCar“ bekannt ist, verfolgt das ambitionierte Ziel, Fahrzeuge zu mobilen Diagnoseeinheiten umzurüsten, die kontinuierlich Vitalparameter wie Herzfrequenz, Atemrate und Körpertemperatur überwachen. Das SmartCar wird erstmals auf der Medizintechnikmesse „Medica“ in Düsseldorf präsentiert, wo die Forschenden dessen präventives Potenzial demonstrieren möchten.
Die Forscher des Peter L. Reichertz Instituts für Medizinische Informatik (PLRI) der TU Braunschweig und der MHH nutzen eine für viele Menschen ungenutzte Zeitspanne: die durchschnittliche Fahrzeit von rund 43 Minuten täglich. Die Idee, ein Fahrzeug für die Gesundheitsüberwachung einzusetzen, erscheint aufgrund dieser täglichen Routine sinnvoll. Durch die Installation hochentwickelter Sensoren in Lenkrad, Sicherheitsgurt und Fahrersitz kann das SmartCar wichtige Vitalparameter ohne aktive Mitwirkung des Fahrenden erfassen. Sensoren im Lenkrad ermitteln ein Elektrokardiogramm (EKG) sowie Herz- und Atemfrequenz über die Hände der Fahrenden. Auch der Sicherheitsgurt ist mit Sensoren ausgestattet, die Herztöne messen, während eine Innenraumkamera die Herz- und Atemrate anhand der Gesichtserkennung berechnet. Ein zusätzlicher Temperatursensor im Fahrersitz komplettiert das System, indem er die Körpertemperatur des Fahrenden aufzeichnet.
Alle erhobenen Daten werden mithilfe einer sogenannten Sensordatenfusion zusammengeführt und durch ein neuronales Netz analysiert, das ein personalisiertes Gesundheitsprofil erstellt und stetig aktualisiert. Dieses kontinuierliche Monitoring ermöglicht es, tendenzielle Veränderungen in den Vitalparametern zu erkennen, die auf drohende gesundheitliche Risiken wie Vorhofflimmern oder unregelmäßige Herzschlagfolgen hinweisen könnten. Die gesammelten Daten werden nicht unmittelbar ausgewertet, um den Fahrenden während der Fahrt nicht abzulenken. Stattdessen plant das Forschungsteam, eine tägliche Zusammenfassung der Messwerte abends per E-Mail bereitzustellen. Sollten Auffälligkeiten auftreten, die ärztlich abgeklärt werden sollten, könnte eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen werden.
Ein besonderer Vorteil des SmartCars liegt in der regelmäßigen Datenerhebung während typischer Alltagsfahrten – sei es auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder bei anderen Fahrten. Diese Routinen schaffen konsistente Vergleichswerte, die langfristig präzise Rückschlüsse auf gesundheitliche Trends zulassen. Ziel der Forschenden ist es, durch kontinuierliches Monitoring kleine, aber bedeutende Abweichungen in individuellen Gesundheitsprofilen frühzeitig zu identifizieren, um rechtzeitig präventive Maßnahmen zu ermöglichen. In einem solchen System sehen die Wissenschaftler eine bedeutende Chance für die Zukunft der Gesundheitsvorsorge.
Das Forschungsteam ist überzeugt, dass das SmartCar langfristig das Potenzial hat, einen entscheidenden Beitrag zur Reduzierung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu leisten. Prof. Dr. Olaf Deserno, Leiter des Projekts am PLRI, erklärt: „Unsere Vision ist, die alltägliche Mobilität für präventive Gesundheitsmaßnahmen zu nutzen. So könnten Herz-Kreislauf-Erkrankungen früher erkannt und deren Folgen gemindert werden.“
Gleichzeitig betonen die Forschenden die Notwendigkeit klarer Datenschutzregelungen und Benutzerfreundlichkeit. Die Nutzer müssen die volle Kontrolle darüber behalten, welche Daten erhoben und wie sie genutzt werden, um Vertrauen in solche Technologien zu stärken. Die Forscher setzen daher auf eine transparente Datenerfassung und Anonymisierung, um den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten.
Kommentar:
Das Konzept des SmartCars zeigt eindrucksvoll, wie fortschrittliche Medizintechnik unseren Alltag verändern könnte. Ein Fahrzeug, das mehr als nur ein Fortbewegungsmittel ist, sondern ein Tool zur Gesundheitsprävention, bietet in einer zunehmend mobilen Gesellschaft vielversprechende Ansätze für die Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen täglich rund 43 Minuten im Auto verbringen, ist das Fahrzeug ein idealer Ort, um Gesundheitsüberwachung in den Alltag zu integrieren, ohne dass die Nutzer dies bewusst wahrnehmen. Die kontinuierliche Erfassung der Vitalparameter ermöglicht es, über längere Zeiträume ein individuelles Gesundheitsprofil zu erstellen, das bereits kleine Abweichungen erkennt und so frühzeitige Warnsignale sendet.
Doch trotz aller technologischen Fortschritte gibt es wesentliche Fragen zu beantworten: Wie geht das System mit den sensiblen Gesundheitsdaten um? Die regelmäßige Erhebung von Vitalwerten greift tief in die Privatsphäre ein, und so ist es entscheidend, dass Nutzer die Kontrolle über ihre Daten behalten. Eine klare, transparente Kommunikation über den Datenschutz und die Datennutzung wird essenziell sein, um Akzeptanz für solche Technologien zu schaffen. Ebenso muss die Zuverlässigkeit der erhobenen Daten gewährleistet sein. Ein falsch positives Ergebnis könnte zu unnötiger Sorge führen, während ein unerkanntes Warnsignal schwere Folgen haben könnte. Die Technologie muss daher präzise und zuverlässig arbeiten, um das Vertrauen der Nutzer langfristig zu gewinnen.
Der präventive Nutzen ist jedoch unbestritten: Wenn sich das SmartCar als zuverlässig und sicher erweist, könnte es in Zukunft einen großen Beitrag zur Reduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen leisten. Die Vorstellung, dass Fahrzeuge neben dem Transport auch eine Gesundheitsvorsorgefunktion übernehmen, ist innovativ und könnte den Weg für eine Zukunft ebnen, in der Gesundheit und Mobilität eng miteinander verbunden sind.
Von Engin Günder, Fachjournalist