Als Idealzustand galt es, ein System einzusetzen, welches einen großen Teil aller benötigten Funktionen abbilden konnte, so dass lediglich für kleinere Sonderberechnungen separate Programme mit Schnittstellen angebunden werden mussten. Es entstand der Begriff des „führenden Systems“: dieses „führende System“ sollte die Hoheit über alle Daten eines Unternehmens haben. Software-Hersteller galten als attraktiver, je mehr Funktionen sie mit der Standard-Auslieferung ihrer IT-Lösung anbieten konnten. Vor allem für ERP-Hersteller war es sehr lohnend immer weitere Funktionen in die ERP-Software zu integrieren. Denn neben dem hohen Aufwand für die Entwicklung von Schnittstellen kam im Betrieb dieser auch die schwierige Fehlersuche hinzu: der Kunde hatte zwei oder mehrere Ansprechpartner unterschiedlicher Hersteller und prinzipiell war immer der andere Hersteller schuld. So ist neben dem Begriff des „führenden Systems“ auch schnell der Begriff „alles aus einer Hand“ zum Qualitätsmerkmal auserkoren worden und war fortan im Marketing, Vertrieb und der IT nicht mehr fortzudenken.
Durch neue Technologien (z.B. XML, Webservices, …), welche in den letzten 15 Jahren immer stärker Einzug in die IT-Landschaft der Unternehmen erhalten haben, haben auch Schnittstellen ihre Abschreckung verloren. Schnittstellen-Projekte können nun deutlich weniger komplex und deutlich günstiger durchgeführt werden. Hinzu kommt, dass eine tief im System integrierte Funktion mit minimalem Leistungsumfang doch nicht immer den Nutzen bringt, wie eine über Schnittstellen angebundene Spezialsoftware mit enorm großem Leistungsumfang.
Damit durchschreitet die IT-Industrie den gleichen Wandel, wie ihn auch die Automobilindustrie (vgl. Daimler AG) in dem gleichen Zeitraum durchlebt hat: weg vom Anbieter für so viel wie möglich und hin zum Spezialisten und damit der Fokussierung auf die Kernkompetenz des Unternehmens.
In den letzten Jahren wurde dieser Gedanke durch IoT-Plattformen noch weiter bestärkt: eine IoT-Plattform ermöglicht die Vernetzung verschiedenartiger Geräte und Applikationen im Internet der Dinge. Die Technologie sorgt für den Informationsaustausch, indem sie die systemübergreifenden Verknüpfungen (Schnittstellen) herstellt und Funktionen zur Steuerung und zur Analyse von Daten anbietet.
Funktionen, welche früher noch von einem IT-Anbieter „aus einer Hand“ angeboten bzw. auch eingesetzt wurden, stehen nun zur Disposition: mit den heutigen Schnittstellen-Technologien können Verknüpfungen sehr schnell aufgebaut und gewartet werden. Fehler können problemlos einem System zugeordnet und selbst oder vom verantwortlichen Hersteller zügig gelöst werden. Funktioniert ein System nicht wie gewünscht, so kann dieses bzw. der Hersteller heutzutage sehr einfach ausgetauscht werden. Demgegenüber wirkt das Konzept des „führenden Systems“ und „alles aus einer Hand“ sehr antiquiert und altbacken: denn muss auf Grund von Problemen das System bzw. der Hersteller gewechselt werden, so muss das System auch meistens komplett gewechselt werden. Es entsteht somit ein enormes Klumpenrisiko.
D.h., eine hohe Anzahl an Partnern und Schnittstellen sind mittlerweile für Software-Hersteller nicht mehr negative, sondern viel mehr positive Eigenschaften: es zeigt, dass der Software-Hersteller offen agiert und für seine Kunden die beste Lösung anbietet – auch wenn diese nicht von ihm selbst ist.
Dieser Sinneswandel ist auch im Bereich der Produktkonfiguration sehr gut zu beobachten: immer mehr Unternehmenslenkern wird bewusst, dass in einem Produktkonfigurator das zentrale Wissen ihres Unternehmens abgebildet wird, nämlich wie die eigenen Produkte technisch und kalkulatorisch valide aufgebaut werden. Dieses Wissen muss unabhängig von anderen Bereichen wie Produktion oder auch Finanzbuchhaltung auf einfache Art mit neuen Kollegen, Partnern, Händler bis hin zu Endkunden bereitgestellt werden.
Dadurch nimmt das Thema Produktkonfiguration in ERP-Auswahlprozessen eine immer zentralere Rolle ein. Wurde früher ein ERP-System mit Produktkonfigurator gesucht, so ist dies heute immer häufiger ein Produktkonfigurator mit ERP-System. Durch den zuvor angesprochenen Plattformgedanke wird zudem Unabhängigkeit wichtiger eingestuft als eine vom Hersteller selbst erstellte, sogenannte tief integrierte Funktion. Denn in der Realität sind die für einen Produktkonfigurator notwendigen Stammdaten meistens auf mehrere Systeme aufgeteilt – trotz vorhandenem „führenden System“.
Information
Der Artikel ist Teil der Reihe „Ein Unternehmen lebt nicht von dem, was es produziert, sondern von dem, was es verkauft.“:
Teil 1 - Variantenmanagement vs. Produktkonfiguration
Teil 2 - Digitalisierung und Industrie 4.0
Teil 3 - B2B-Webportal PROMETHEUS eBUSINESS
Teil 4 - Integration und Unabhängigkeit
Teil 5 - Resümee
Weitere Informationen unter www.acbis.de/digitalisierung-und-produktkonfiguration