„Das ist doch nicht so weit.“ „Den Weg kenne ich im Schlaf.“ „Wir fahren doch nur in der 30er-Zone.“ Die Ausreden, warum Autofahrer und Mitreisende keinen Gurt anlegen, sind so vielfältig wie falsch. Einfach vorzurechnen, wie groß die Kräfte sind, die bei einem Autounfall wirken, hilft jedoch nicht. Mahnungen, dass bereits bei einem Crash mit 15 km/h beim Abstützen mit den Händen schwerwiegende Verletzungen folgen können, werden oft als Übertreibung abgetan. Aus diesem Grund setzt die Polizei in ganz Deutschland auf Veranschaulichen in der Prävention von Verkehrsunfällen. Das Polizeipräsidium Mittelhessen nimmt dabei seit über 10 Jahren eine wichtige Rolle in der Region ein. Seinerzeit wurde das Kooperationsprojekt BOB mit regionalen Gaststätten ins Leben gerufen. In dessen Rahmen machen Fahrer mit einem gelben Logo auf sich aufmerksam, diejenigen zu sein, die am Abend mit den Freunden keinen Alkohol trinken, um diese sicher nach Hause zu bringen. Dafür gibt es in jeder teilnehmenden Gaststätte ein antialkoholisches Getränk pro Abend umsonst. „Unser Ziel war es schon immer, gezielt Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen, damit sich falsche Verhaltensweisen im Straßenverkehr erst gar nicht ausbilden und verfestigen können“, so Polizeihauptkommissar Dirk Brandau, der auch die Idee für den sogenannten Gurtsimulator hatte. Dirk Brandau ist als Leiter der Geschäftsstelle des Verkehrspräventionsprojektes "verkehrssicher-in-mittelhessen" immer auf der Suche nach Lösungen zum Reduzieren von Unfällen und deren Folgen. Während eines internationalen Austausches von Polizeiexperten in Polen gefiel ihm ein portabler Gurtschlitten der polnischen Kollegen, der unter Ausnutzung der Schwerkraft über eine schiefe Ebene einen Aufprall simulierte. „Insbesondere die Mobilität dieses Gerätes hatte es mir angetan“, führt Brandau aus.
Dem Freund und Helfer wird geholfen
Ein weiterer Erfolgsfaktor gelungener Präventionsarbeit ist, die zu Sensibilisierenden bei sich vor Ort bzw. auf Veranstaltungen abzuholen. Aus diesem Grund war das Team aus Gießen für „seinen“ Gurtschlitten auf der Suche nach einer Lösung, die gut zu transportieren ist. Diesen Aspekt erfüllte das polnische Modell zwar, aber der Hauptkommissar hatte eine moderne Lösung
im Sinn, welche die Kraftauswirkungen im Demonstrationsfall gerade bei Schülern weniger der Schwerkraft, denn einer beschleunigten Geschwindigkeit zuschreiben würde. Für die Ausführung machte er sich auf die Suche nach Kooperationspartnern und rannte offene Türen ein. So holte er nach und nach den Bereich Metalltechnik der Gießener Theodor-Litt-Schule, Experten der DEKRA, Studenten der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM), die ACE Stoßdämpfer GmbH sowie weitere Unterstützer und Sponsoren ins Boot. Geleitet von Dipl.-Ing. Hans-Jürgen Tripp von der DEKRA, übernahmen Michael Amend und Marc Kraft als Studenten der THM im Rahmen ihrer Bachelorarbeit das Projekt "Konzeption eines Gurtschlittens zur Reproduktion unfallbedingter Fahrzeuginsassenbeschleunigung", sodass auch die wissenschaftliche Begleitung gegeben war. Die Kooperation mit Experten der DEKRA sorgte nicht nur bei den Akademikern für Extra-Motivation. Es entstand ein Schlittensystem, bestehend aus einem Beschleunigungs-, einem Sitz-, einem Schienen- und einem Verzögerungsmodul. Die Untergestelle schweißten Schüler der Theodor-Litt-Schule zusammen und übernahmen unter der Leitung ihres Lehrers Marco Schlapp auch den Zusammenbau des Gurtschlittens. Die Einbindung in das Projekt unter dem Motto „Physik live“ war für die Schüler ebenso aufregend wie für die Studenten.
Zerlegbarer Gurtschlitten für unterwegs
Zu „Physik live“ passt auch die Verbindung zur ACE Stoßdämpfer GmbH. Denn für jeden, der sich noch nicht intensiv mit Industriestoßdämpfern auseinandergesetzt hat, ist die Wirkweise dieser modernen Maschinenelemente verblüffend. Konstruiert sind sie, um auf schnellstem Weg, kinetische in Wärmeenergie umzuwandeln und bewegte Massen ohne Rückpralleffekte konstant abzubremsen. Derart gesichert, bleiben beim Gurtschlitten zwar die für Unfälle typischen peitschenartigen Bewegungen auf den Körper aus, aber die simulierten Zusammenstöße von Auto gegen Auto oder von Auto gegen Hauswand sind noch immer realitätsnah und eindrucksvoll genug. Um das ideale Bremssystem von ACE zu bestimmen, war es in der Planungsphase wichtig, alle Eckdaten zu berücksichtigen. Da PC-Steuerung und beschleunigender Elektromotor verschiedene Modi erlauben sollten, orientierte man sich bei der Dämpferauswahl an den jeweiligen Höchstwerten von Geschwindigkeit und zu bewegender Masse. Die für die Konstruktion zugrunde gelegten Einsatzwerte waren:
Geschwindigkeit = v = 5 / 10 / 15 km/h
Masse = m = 50 kg (leer) bis 200 kg (voll besetzt)
Um nicht nur für die maximalen Kräfte den optimalen Industriestoßdämpfer anzubieten, steuerten die Spezialisten von ACE eine einstellbare Lösung bei. Man entschied sich in enger Abstimmung mit der Projektleitung für Dämpfer des Typs MA64150EUM aus der MAGNUM-Familie von ACE. „Dies ist der größte einstellbare Dämpfer unserer Modellreihe, den wir stets auf Lager haben und binnen 24 Stunden liefern können. Wenn die Anforderungen es nötig machen, entwickeln wir auch Sonderanfertigungen.“ Dies sei für die ACE Stoßdämpfer GmbH gelebte Praxis, so Steffen Bonn vom technischen Außendienst und in der Region Mittelhessen tätig. Damit die Konstruktion auf einen Anhänger passt, beträgt der gesamte Weg für den beschleunigten Sitz nur 6 m. Nach 2 m wird der Antrieb ausgehakt, und die Masse fährt mit Geschwindigkeiten von 5, 10 und 15 km/h weiter bis in die Endlage. Der mit einer speziell entwickelten Dichtungstechnik sowie mit einem gehärteten Führungslager und integriertem Festanschlag ausgestattete Industriestoßdämpfer verrichtet seine Arbeit auch in Extremsituationen auf einer Hublänge von gerade einmal 150 mm. Dabei vollzieht sich das Abbremsen in weniger als einer halben Sekunde und ist damit für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar. Bei einem Eigengewicht von knapp über 5 kg ist er für eine effektive Masse von bis zu 80.000 kg geeignet. Durch das einfache Einstellen können ebenso leicht auch effektive Massen ab 330 kg ideal gebremst werden. Zwischen diesen Enden der Skala sind den Anforderungen von Konstrukteuren an ACE aufgrund der stufenlosen Anpassung dieses Maschinenelements keine Grenzen gesetzt. Auch die im ausgefahrenen Zustand maximale Länge
von 450 mm des Dämpfers war für das Bestreben einer kompakten Gesamtkonstruktion in Mittelhessen von Bedeutung. Das effiziente Verzögern der Massen schont nicht nur die Passagiere, sondern auch die Gesamtkonstruktion, die im Extremfall beim Durchfahren der Endlage kaum zu kalkulierenden Risiken für Mensch und Maschine ausgesetzt wäre. Ohne die schützende Lösung von ACE könnten bei mehrmaligem Anfahren der Endlage aufgrund der hohen Kräfte ansonsten Schäden an dem kompletten, ca. 600 kg wiegenden System entstehen, dessen Gesamtkosten von Polizeihauptkommissar Dirk Brandau dank des Sponsorings von Schienen, Sitz, Antrieb, Stoßdämpfer und Stromzuleitungen aktuell auf ca. 12.000 Euro beziffert werden.
Ziel: Gurtanlegequote erhöhen
Der Gurtsimulator wird zukünftig hauptsächlich in der Verkehrspräventionsarbeit in den Schulen eingesetzt. Seinen ersten großen Einsatz hatte er Mitte September 2017 auf dem Aktionstag der Polizei Mittelhessen anlässlich des 10-jährigen Geburtstages der Aktion BOB an den Messehallen in Gießen. Und der Blick auf die Statistiken des Einsatzbezirkes des Polizeipräsidiums veranschaulicht, warum der Einsatz des Gurtschlittens wichtig ist. 2016 wurden in den Landkreisen Gießen, Marburg-Biedenkopf sowie im Lahn-Dill- und dem Wetteraukreis insgesamt 23.000 Verkehrsunfälle registriert. Im Zusammenhang mit diesen Unfällen starben 31 Menschen. 750 Zusammenstöße hatten schwerverletzte Personen zur Folge. Bei 2.763 Kollisionen zogen sich Beteiligte leichte Verletzungen zu. Bei knapp 500 Unfällen waren die Fahrzeuginsassen nicht angeschnallt, was einem Anteil von über 2 Prozent entspricht. Der Anteil von schweren Verletzungen und Todesfällen war dabei laut Polizei überproportional hoch. Bei den schweren Verletzungen lag er um rund das Vierfache höher. Bei den Todesfällen stieg der Faktor sogar fast auf das Fünffache. Und auch die 150 Kollisionen mit leichten Verletzungen wären wohl drastisch zu reduzieren gewesen. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass sich die Prognose von Polizeipräsident Bernd Paul erfüllt: „Wer einmal eine Fahrt mit dem Gurtschlitten gemacht hat, wird künftig auf den Gurt nicht mehr verzichten!"