Digitale Herausforderungen: Gleichstellung von Online- und Vor-Ort-Apotheken gefordert
Vor der bevorstehenden Bundestagswahl hat DocMorris ein Positionspapier veröffentlicht, in dem die Notwendigkeit einer umfassenden Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens betont wird. Das Unternehmen sieht in der Digitalisierung den Schlüssel zur Sicherung der langfristigen medizinischen Versorgung und zur Eindämmung der steigenden Gesundheitskosten. Ein wesentlicher Bestandteil der Forderungen von DocMorris ist die regulatorische Gleichstellung von Online- und Vor-Ort-Apotheken, um eine gerechte Vergütung für äquivalente pharmazeutische Dienstleistungen zu gewährleisten.
Das Positionspapier beleuchtet mehrere drängende Probleme im aktuellen Gesundheitssystem, darunter die steigenden Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung, den Fachkräftemangel und den Rückgang traditioneller Apotheken, die zusammengenommen die flächendeckende Versorgung gefährden. Als Lösung wird die Telepharmazie hervorgehoben, die vor allem in strukturschwachen Gebieten Versorgungslücken schließen könnte.
Walter Hess, CEO von DocMorris, sieht in der Telepharmazie eine Möglichkeit, die Versorgung direkt zu den Patienten zu bringen, was insbesondere für ländliche Regionen von Vorteil sein könnte. Das Unternehmen fordert die Integration der Telepharmazie ins Sozialrecht und plädiert für die Förderung hybrider Versorgungsmodelle und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei Routineaufgaben.
Oliver Scheel, CEO der Apo.com-Group, äußert sich im „Handelsblatt“ zur Thematik und betont die Bedeutung einer Kooperation zwischen Online- und Vor-Ort-Apotheken. Er argumentiert, dass die Aufteilung in zwei konkurrierende Lager den Apothekerberuf insgesamt schwächen würde und schlägt stattdessen eine Zusammenarbeit vor, um die Arzneimittelversorgung in ländlichen Gebieten effektiv zu sichern.
Die Bestrebungen von DocMorris, eine Gleichstellung von Online- und Vor-Ort-Apotheken zu erreichen, spiegeln die wachsenden digitalen Herausforderungen im Gesundheitssektor wider. Diese Initiative könnte weitreichende Auswirkungen auf die Art und Weise haben, wie pharmazeutische Dienstleistungen in Deutschland erbracht werden. Die regulatorische Gleichstellung würde nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, sondern auch neue Versorgungsmodelle ermöglichen, die insbesondere in unterversorgten Regionen dringend benötigt werden. Diese Entwicklung fordert ein Umdenken bei allen Akteuren im Gesundheitswesen und könnte, bei erfolgreicher Umsetzung, Deutschland als Vorreiter in der digitalen Gesundheitsversorgung positionieren.
Krankenkassen setzen auf künstliche Intelligenz im Kampf gegen Fehlverhalten
Fehlverhalten im Gesundheitswesen bleibt ein erhebliches Problem, doch die gesetzlichen Krankenkassen erzielen zunehmend Erfolge bei dessen Bekämpfung. Dies zeigt der aktuelle Fehlverhaltensbericht der AOK-Gemeinschaft für die Jahre 2022 und 2023. Demnach konnten die Kassen in diesem Zeitraum insgesamt 42,8 Millionen Euro an Schadenssummen zurückfordern, ein Anstieg von 21 Prozent gegenüber den Vorjahren. Die größte Anzahl neuer Fälle entfiel erneut auf den Pflegebereich, gefolgt von Arznei- und Verbandsmitteln sowie betrugsbezogenen Versicherungsfällen.
Laut Bericht verzeichneten die Krankenkassen rund 14.000 Fälle von Fehlverhalten, davon 55 Prozent neue und 45 Prozent bestehende Fälle. Knapp 7.500 davon wurden abgeschlossen, während 1.100 Fälle an Strafverfolgungsbehörden übergeben wurden. Die gemeldeten Hinweise auf Abrechnungsbetrug, Bestechung und andere Unregelmäßigkeiten stiegen um 14 Prozent auf insgesamt 11.000. Bemerkenswert ist, dass rund 60 Prozent dieser Hinweise von externen Hinweisgebern kamen, darunter Angehörige, Pflegekräfte und andere beteiligte Personen.
Der Schwerpunkt der Fälle lag wie in früheren Berichtszeiträumen im Bereich Pflege und häusliche Krankenpflege. Hier wurden allein 2.772 neue Fälle verzeichnet. Laut Susanne Wagenmann, Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, hat die öffentliche Diskussion über Pflegebetrug zu einer stärkeren Sensibilisierung beigetragen. »Die mediale Berichterstattung hat Angehörige und Beschäftigte dazu motiviert, Unregelmäßigkeiten häufiger zu melden«, so Wagenmann.
Während die Rückforderungen im Pflegebereich von 11,25 auf 9,63 Millionen Euro zurückgingen, gab es im Bereich Arznei- und Verbandsmittel einen deutlichen Anstieg der Schadenssummen. Diese stiegen auf 16,96 Millionen Euro – ein neuer Höchstwert. Hauptverantwortlich war ein groß angelegter Betrugsfall eines norddeutschen Dienstleisters für Wundversorgung, der durch eine Schadensregulierung im vergangenen Jahr beigelegt wurde.
Die AOK und andere Kassen betonen, dass der Einsatz neuer Technologien für die zukünftige Bekämpfung von Fehlverhalten entscheidend sein wird. So soll künstliche Intelligenz verstärkt genutzt werden, um betrügerische Aktivitäten effizienter aufzudecken. »KI kann frühzeitig Auffälligkeiten erkennen und gezielt gegen Missbrauch vorgehen«, erklärte Wagenmann. Zugleich fordert die AOK die Einrichtung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften in allen Bundesländern, um die strafrechtliche Verfolgung zu stärken und Abschreckung zu schaffen.
Trotz bestehender Herausforderungen wie Insolvenzen von Schuldnern sieht die AOK deutliche Fortschritte. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Strategien soll dazu beitragen, den Missbrauch im Gesundheitswesen weiter einzudämmen.
Die Fortschritte der Krankenkassen bei der Aufdeckung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen sind ein Erfolg, der nicht nur den Geschädigten zugutekommt, sondern auch das Vertrauen in das Gesundheitssystem stärkt. Mit 42,8 Millionen Euro zurückgeforderten Schadenssummen beweist der aktuelle AOK-Bericht, dass die Kassen auf einem richtigen Weg sind.
Besonders hervorzuheben ist der zunehmende Einsatz von künstlicher Intelligenz, die bei der Identifikation von Auffälligkeiten enorme Vorteile bietet. Sie ermöglicht eine präzisere Verfolgung von Betrugsmustern und ergänzt die klassische Ermittlungsarbeit. Dennoch darf die Digitalisierung nicht die einzige Lösung sein: Die Forderung nach Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften ist ein wichtiger Schritt, um auch die rechtliche Verfolgung effizienter zu gestalten.
Die hohen Fallzahlen im Pflegebereich zeigen jedoch, dass weiterhin Handlungsbedarf besteht. Eine verstärkte Sensibilisierung der Öffentlichkeit, gepaart mit technologischen Innovationen und strengeren rechtlichen Konsequenzen, könnte das Problem nachhaltig reduzieren. Fehlverhalten im Gesundheitswesen schädigt nicht nur die Kassen, sondern auch das Vertrauen in ein System, das auf Solidarität basiert. Dieser Missbrauch darf nicht toleriert werden.
Sanacorp zieht positive Bilanz: Rund 100.000 E-Rezepte über die Mea-App eingelöst
Drei Monate nach der Einführung des Card-Link-Verfahrens in der Mea-App zieht die Apothekergenossenschaft Sanacorp eine erfreuliche Zwischenbilanz. Seit Mitte September wurden knapp 100.000 elektronische Rezepte über die App eingelöst. Die von Sanacorp gegründete Kooperation „Meine Apotheken“ (Mea) war der erste Partner, der die standeseigene Card-Link-Lösung der Gesellschaft digitaler Services für Apotheken (Gedisa) integrierte. Die Zulassung dafür hatte die Gematik Anfang September erteilt.
Sanacorp startete die Testwoche am 16. September. Seither nutzen insgesamt 1262 der rund 3000 Mea-Apotheken die neue Technologie, um ihren Kunden die Einlösung von E-Rezepten per Smartphone zu ermöglichen. Laut Manuel Kuhn, Bereichsleiter Customer and Consumer Management der Digital Unit bei Sanacorp, zeigten sich einige Standorte besonders erfolgreich. „Einige Mea-Apotheken haben in den ersten sechs Wochen mehr als 250 Rezepte allein über die Mea-App erhalten“, erklärte Kuhn.
Das Verfahren bietet Apotheken die Möglichkeit, sich gegenüber großen Online-Versendern zu positionieren und die digitale Einlösung von Rezepten kundenfreundlich zu gestalten. Die Plattform gesund.de hatte bereits Ende Juli als erster Anbieter am Markt die Zulassung erhalten, während EU-Versender wie Doc Morris und Shop Apotheke schon im April ihre Genehmigungen von der Gematik erhielten.
Für Sanacorp zeigt der Erfolg der Mea-App, dass Vor-Ort-Apotheken weiterhin eine wichtige Rolle im Wettbewerb spielen, wenn sie digitale Lösungen effektiv nutzen. Die E-Rezept-Einlösung per Card-Link bietet sowohl Apotheken als auch Patienten spürbare Erleichterungen und könnte ein wichtiger Schritt zur Digitalisierung des Gesundheitswesens sein.
Der Erfolg der Mea-App zeigt deutlich, dass digitale Lösungen kein Alleinstellungsmerkmal von Versandapotheken mehr sind. Die Einführung des Card-Link-Verfahrens ermöglicht es Vor-Ort-Apotheken, eine zentrale Rolle in der Digitalisierung des Rezeptwesens zu übernehmen. Kunden erwarten heutzutage Komfort und Schnelligkeit – Faktoren, die die Mea-App erfüllt.
Dennoch bleibt die Herausforderung bestehen, alle Apotheken flächendeckend an solche Lösungen anzuschließen. Während 1262 Mea-Apotheken bereits auf Card-Link setzen, bedeutet dies zugleich, dass viele Standorte noch Nachholbedarf haben. Auch die Konkurrenz aus dem Versandhandel schläft nicht. Anbieter wie Doc Morris und Shop Apotheke waren frühzeitig am Markt und sichern sich kontinuierlich Marktanteile.
Sanacorp und andere Verbände müssen daher weiter daran arbeiten, digitale Innovationen in die Breite zu tragen und gleichzeitig die Vorteile der persönlichen Beratung vor Ort herauszustellen. Nur so können Apotheken langfristig bestehen – als modernes Bindeglied zwischen digitalem Fortschritt und menschlicher Nähe.
Innovationswelle im Pharmamarkt: Bedeutende Zunahme neuer Medikamente in 2024
Im Jahr 2024 hat die pharmazeutische Industrie eine signifikante Zunahme an Medikamentenneuzulassungen verzeichnet, die weit über die Trends der letzten Jahre hinausgeht. Der Verband der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) berichtet, dass insgesamt 43 neue Medikamente mit neuen Wirkstoffen auf den deutschen Markt gekommen sind. Diese Zahl markiert eine der höchsten Freigaberaten innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte und stellt eine Steigerung gegenüber den 30 Zulassungen des Vorjahres dar.
Von diesen 43 neuen Medikamenten zielen 27, also mehr als die Hälfte, auf die Behandlung seltener Krankheiten ab. Diese so genannten Orphan Drugs zeigen die fortschrittliche Richtung, die die Pharmaindustrie in Bezug auf seltene Erkrankungen einschlägt. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist der Einsatz von drei neuen Arzneistoffen zur Behandlung der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie, einer seltenen und lebensbedrohlichen Erkrankung.
Neben den Orphan Drugs bleiben onkologische Präparate weiterhin ein Hauptaugenmerk der pharmazeutischen Forschung. Unter den neuen Medikamenten befinden sich zwölf Krebsmedikamente, darunter sechs Kinasehemmer. Ein hervorzuhebendes neues Krebsmedikament ist Capivasertib (Truqap®), das die AKT-Kinase selektiv hemmt und speziell zur Behandlung von Brustkrebs entwickelt wurde.
Auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten wurden ebenfalls wichtige Fortschritte gemacht, einschließlich der Zulassung von zwei neuen Reserveantibiotika: Meropenem-Vaborbactam (Vaborem®) und Enmetazobactam (Exblifep®). Diese Entwicklungen sind entscheidend, da sie helfen, mit den immer weiter verbreitenden Resistenzen Schritt zu halten. Dennoch mahnt der vfa, dass zwei neue Antibiotika pro Jahr nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Der Verbandschef Han Steutel hofft daher auf neue Anreize für die Entwicklung weiterer Antibiotika im Rahmen der EU-Pharmagesetzgebung von 2025.
Auffallend ist dieses Jahr auch die hohe Anzahl an chemisch-synthetisch hergestellten Medikamenten, die 70 Prozent der Neuzulassungen ausmachen. Diese Zunahme betont die anhaltende Bedeutung chemischer Innovationen in der Arzneimittelherstellung, auch wenn keine neuen Gen- oder Zelltherapien im Jahr 2024 hinzukamen.
Die klinische Forschung in Deutschland bleibt ein wesentlicher Pfeiler der globalen Medikamentenentwicklung, da 31 der 43 neuen Medikamente in deutschen Krankenhäusern und Arztpraxen getestet wurden. Jedoch wurde nur ein neuer Wirkstoff unter direkter Beteiligung deutscher Labore entwickelt, was die Notwendigkeit unterstreicht, Deutschlands Attraktivität für klinische Studien weiter zu erhöhen.
Die beeindruckende Anzahl neuer Medikamente, die 2024 auf den Markt gebracht wurden, spiegelt den dynamischen Fortschritt und das Engagement der pharmazeutischen Industrie wider, insbesondere im Bereich der seltenen Erkrankungen und der Onkologie. Doch die Herausforderungen sind enorm, insbesondere in Bezug auf die Notwendigkeit, mit den global steigenden Resistenzen gegen Antibiotika Schritt zu halten.
Die aktuelle Flut an chemisch-synthetischen Medikamenten verdeutlicht, dass trotz der aufkommenden biotechnologischen Methoden die traditionelle Chemie eine unverzichtbare Rolle in der Arzneimittelentwicklung spielt. Allerdings weist die geringe Beteiligung deutscher Labore bei der Wirkstoffentwicklung auf eine mögliche Schwachstelle hin: Deutschland muss seine Anstrengungen verdoppeln, um eine führende Rolle in der medizinischen Forschung zu behalten.
Das kommende Jahr wird entscheidend sein, insbesondere mit Blick auf die Umsetzung des Medizinforschungsgesetzes. Nur wenn Deutschland es schafft, seine Attraktivität für klinische Studien zu steigern, kann es hoffen, weiterhin an der Spitze der pharmazeutischen Innovation zu stehen.
Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Betriebsrenten: Ein juristischer Wendepunkt
In einem bemerkenswerten juristischen Schlagabtausch zwischen dem Arbeitsgericht Wuppertal und dem Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf wurden die Grenzen und Möglichkeiten der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Betriebsrenten neu definiert. Die Auseinandersetzung, die sich auf die Auslegung der Paragraphen des Betriebsrentengesetzes (BetrAVG) konzentrierte, erreichte am 12. April 2024 einen vorläufigen Höhepunkt. Das LAG Düsseldorf entschied mit dem Urteil (6 Sa 1198/23), dass die Anrechnung des anderweitigen Erwerbseinkommens eines Klägers auf dessen Betriebsrente rechtmäßig sei. Diese Entscheidung kontrastiert stark mit der vorangegangenen Entscheidung des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 24. Oktober 2023 (2 Ca 1321/23), welche die Anrechnung für unzulässig erklärte.
Die rechtliche Kontroverse begann, als ein seit 1979 beschäftigter Arbeitnehmer, der ab Januar 2017 beurlaubt und seit Mai 2023 Empfänger einer gesetzlichen Altersrente war, durch seine weitere berufliche Tätigkeit ein zusätzliches Einkommen erzielte. Als das Unternehmen, gestützt auf tarifvertragliche Bestimmungen, dieses Einkommen auf seine Betriebsrente anrechnete, zog der Arbeitnehmer vor Gericht. Während das Arbeitsgericht Wuppertal dem Kläger Recht gab und die Anrechnung verbot, hob das LAG Düsseldorf dieses Urteil auf und stellte klar, dass nach § 6 BetrAVG keine gesetzliche Grundlage gegen die Anrechnung von Erwerbseinkommen bei vorzeitiger Altersrente besteht.
Das LAG argumentierte, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 6 BetrAVG nicht intendiert hatte, eine solche Anrechnung auszuschließen. Weiterhin führte das Gericht aus, dass die Regelung der Anrechnung explizit in § 5 BetrAVG zu finden sei und dass die gesetzlichen Änderungen keinen direkten Einfluss darauf hätten. Diese Interpretation öffnet die Tür für eine flexible Handhabung tarifvertraglicher Regelungen und wirft Fragen zur zukünftigen Gestaltung von Betriebsrentenvereinbarungen auf.
Die jüngste Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf markiert einen kritischen Punkt in der Diskussion um die betriebliche Altersversorgung und den Schutz der Einkommen von Ruheständlern. Während das Gericht technisch korrekt im Rahmen des geltenden Rechts handelte, wirft dieser Fall ein Schlaglicht auf die möglichen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen solcher Entscheidungen. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Flexibilität der Unternehmen zur Anrechnung von Erwerbseinkommen auf die Betriebsrenten im besten Interesse der betroffenen Arbeitnehmer liegt.
Diese Entscheidung könnte als Präzedenzfall für zukünftige Fälle dienen und somit weitreichende Folgen für die Planungssicherheit und das Renteneinkommen von Arbeitnehmern nach sich ziehen. Angesichts des zunehmenden Drucks auf die Rentensysteme und der Notwendigkeit, auch im Ruhestand flexibel zu bleiben, bedarf es einer gründlichen Überprüfung und möglicherweise einer Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, um die Interessen der Ruheständler angemessen zu schützen und zu fördern.
Institutionen formen den Wohlstand: Lehren aus der Geschichte
Warum sind einige Länder heute reich und andere arm? Diese Frage ist eine der zentralen Herausforderungen der Wirtschaftswissenschaft und findet nun durch die Forschung der diesjährigen Wirtschaftsnobelpreisträger Daron Acemoglu, Simon Johnson und James Robinson eine neue Dimension. Die Wissenschaftler analysierten die historischen Einflüsse des europäischen Kolonialismus auf die politischen und wirtschaftlichen Institutionen und deren Auswirkungen auf den Wohlstand von Nationen.
Die Einkommensungleichheit bleibt weltweit gravierend: Die reichsten Länder der Welt sind etwa 30-mal wohlhabender als die ärmsten. Diese Kluft hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. Selbst wenn wirtschaftlich schwächere Staaten ein gewisses Wachstum verzeichnen, gelingt es ihnen nicht, zu den reicheren Nationen aufzuschließen. Die Forschungsergebnisse der Preisträger zeigen, dass historische Faktoren und institutionelle Strukturen den entscheidenden Unterschied machen.
Im Fokus der Analyse stehen die unterschiedlichen Herangehensweisen europäischer Kolonialmächte ab dem 16. Jahrhundert. Während in einigen Regionen inklusive Institutionen geschaffen wurden, die politische Rechte, wirtschaftliche Freiheiten und Bildung förderten, etablierten die Kolonisatoren in anderen Gebieten extraktive Systeme, die auf Ausbeutung und Bereicherung der Herrschenden abzielten. Diese Strukturen prägen bis heute die wirtschaftlichen Perspektiven vieler Länder.
Ein anschauliches Beispiel ist die geteilte Stadt Nogales. Der US-amerikanische Teil in Arizona ist deutlich wohlhabender als der mexikanische Teil in Sonora. Trotz identischer geografischer und kultureller Gegebenheiten entwickelten sich die Regionen unterschiedlich, da im Norden integrative Institutionen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbesserten, während im Süden Korruption und organisierte Kriminalität die wirtschaftliche Entwicklung behinderten.
Ein weiterer Faktor, den die Forscher herausstellten, ist die Sterblichkeit unter den Kolonisatoren. In Gebieten, in denen die Kolonisierung aufgrund hoher Sterberaten schwierig war, wurden extraktive Strukturen etabliert, die langfristig die wirtschaftliche Entwicklung hemmten. In dünner besiedelten Gebieten hingegen siedelten sich europäische Migranten eher an und schufen Strukturen, die später Wohlstand förderten.
Die Preisträger erklären auch, warum viele Länder in extraktiven Institutionen gefangen bleiben. Solche Systeme bieten kurzfristige Vorteile für die herrschende Elite, hemmen jedoch langfristig das Wachstum. Reformen scheitern oft an mangelndem Vertrauen zwischen Bevölkerung und Machtstrukturen. Dennoch gibt es Beispiele, in denen Staaten den Übergang zu inklusiven Institutionen geschafft haben, indem sie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbauten.
Die Forschung verdeutlicht: Die Geschichte eines Landes ist eng mit seinem heutigen Wohlstand verknüpft. Institutionen, die wirtschaftliche Freiheit und Rechtsstaatlichkeit fördern, schaffen langfristige Stabilität und Wohlstand. Länder, die sich von ihrer kolonialen Vergangenheit lösen und inklusive Strukturen etablieren, haben bessere Chancen auf wirtschaftlichen Erfolg.
Die Forschungsergebnisse der Nobelpreisträger legen eine unbequeme Wahrheit offen: Wohlstand ist nicht nur das Ergebnis harter Arbeit oder kluger wirtschaftlicher Entscheidungen, sondern vor allem das Produkt historischer Entwicklungen und institutioneller Rahmenbedingungen. Diese Erkenntnis ist gleichermaßen erhellend wie ernüchternd.
Für viele Länder bedeutet dies, dass sie eine doppelte Herausforderung bewältigen müssen. Einerseits geht es darum, die historischen Altlasten extraktiver Institutionen abzubauen, andererseits gilt es, den schwierigen Übergang zu inklusiven Strukturen zu meistern. Dies erfordert politische Reformen, internationale Unterstützung und einen gesellschaftlichen Konsens – eine Mammutaufgabe, die nicht über Nacht zu bewältigen ist.
Die Geschichte von Nogales zeigt, wie tiefgreifend institutionelle Unterschiede das Leben der Menschen beeinflussen. Sie verdeutlicht, dass Wohlstand weniger von natürlichen Ressourcen oder geografischen Gegebenheiten abhängt als vielmehr von den Regeln, nach denen eine Gesellschaft funktioniert.
Doch die Botschaft der Preisträger gibt auch Anlass zur Hoffnung. Länder, die es schaffen, extraktive Institutionen hinter sich zu lassen, können ihre wirtschaftliche Zukunft selbst gestalten. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Freiheiten sind nicht nur moralisch erstrebenswert, sondern auch die Grundlage für langfristigen Wohlstand. Es liegt nun an den Entscheidungsträgern, die Lehren aus der Vergangenheit in eine bessere Zukunft zu übersetzen.
Keine neue Indikation für Tirzepatid bei Schlafapnoe – EMA bleibt bei bestehender Linie
Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat eine Erweiterung der Indikation für Tirzepatid (Mounjaro®) zur Behandlung von obstruktiver Schlafapnoe (OSA) abgelehnt. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) begründete die Entscheidung damit, dass die bestehende Zulassung für Gewichtsmanagement die Behandlung von OSA bei adipösen Patienten bereits abdecke.
Obstruktive Schlafapnoe, die häufig durch starkes Übergewicht verursacht wird, gilt als ernstzunehmende Erkrankung, die das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht und die Lebensqualität massiv beeinträchtigen kann. Charakteristisch für die Erkrankung sind wiederkehrende Atemaussetzer während des Schlafs, die oft mit lautem Schnarchen einhergehen. Studien zeigen, dass eine Gewichtsreduktion bei vielen Betroffenen die Symptome erheblich lindern kann. Diese Erkenntnis war für den CHMP ausschlaggebend, den Nutzen von Tirzepatid bei OSA als bereits durch die bestehende Indikation abgedeckt zu betrachten.
Der Hersteller Lilly hatte eine separate Indikation für die Behandlung von moderater bis schwerer OSA bei Erwachsenen mit Adipositas beantragt und sich dabei auf klinische Daten gestützt. In zwei Studien mit 469 Teilnehmern konnte Tirzepatid die Häufigkeit der Atemaussetzer pro Stunde signifikant verringern. Der CHMP stellte die Wirksamkeit des Medikaments nicht in Frage und kündigte an, die Studienergebnisse in die Produktinformationen aufzunehmen. Eine zusätzliche Zulassung wurde jedoch abgelehnt, da die EMA keine Notwendigkeit für eine eigenständige Indikation sah.
In Deutschland hat die Entscheidung der EMA vor allem Auswirkungen auf die Erstattungsfähigkeit. Tirzepatid und ähnliche Inkretin-Mimetika wie Semaglutid (Wegovy®) gelten bei der Verwendung zur Gewichtsreduktion als Lifestyle-Medikamente und werden nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Im Gegensatz dazu sind niedrig dosierte Präparate wie Semaglutid (Ozempic®), die als Antidiabetika zugelassen sind, erstattungsfähig. Eine Zulassungserweiterung auf OSA hätte womöglich dazu geführt, dass mehr Patienten das Medikament zulasten der GKV erhalten könnten.
Die Ablehnung sorgt bei Experten für gemischte Reaktionen. Während einige die Linie der EMA als konsequent bewerten, sehen andere darin eine verpasste Chance, den Zugang zu effektiven Therapien für Patienten mit OSA zu erleichtern. Lilly betont weiterhin die positiven Ergebnisse aus den vorgelegten Studien und verweist auf die Bedeutung von Gewichtsmanagement in der Behandlung von Schlafapnoe.
Die Entscheidung der EMA, keine separate Indikation für Tirzepatid bei obstruktiver Schlafapnoe zuzulassen, wirft wichtige Fragen auf. Einerseits ist es nachvollziehbar, dass die Behörde auf eine klare Abgrenzung der Indikationen setzt, um Missbrauch oder inflationäre Verschreibungen zu verhindern. Andererseits bleibt das Problem der Erstattungsfähigkeit ungelöst – und damit der Zugang zu dringend benötigten Behandlungen.
Adipositas und Schlafapnoe sind eng miteinander verknüpft. Die Tatsache, dass Gewichtsreduktion die Symptome signifikant verbessern kann, sollte nicht die Debatte darüber beenden, wie betroffene Patienten bestmöglich unterstützt werden können. Gerade in Deutschland, wo die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für Abnehmpräparate nicht übernehmen, ist der Leidensdruck für viele Patienten groß.
Die EMA hat formal korrekt gehandelt, doch die Entscheidung zeigt erneut, dass es keine ausreichenden Lösungen für die wachsenden Herausforderungen bei Adipositas und ihren Folgeerkrankungen gibt. Ein ganzheitlicher Ansatz, der auch innovative Therapien wie Tirzepatid umfassend zugänglich macht, wäre dringend notwendig. Hier bleibt die Politik gefragt, den rechtlichen und finanziellen Rahmen so zu gestalten, dass Fortschritte in der Medizin nicht an bürokratischen Hürden scheitern.
Der Straußeneffekt: Wenn die Angst vor dem Kontostand zur Routine wird
In der modernen Verhaltensökonomie ist ein Phänomen weit verbreitet, das als "Straußeneffekt" bekannt ist. Dieses Verhalten, das darin besteht, unangenehme Realitäten zu vermeiden, zeigt sich oft im Umgang mit den eigenen Finanzen. Marcel Lukas, ein renommierter Finanzexperte von der Universität St. Andrews, und Dr. Ray Charles Howard, Assistenzprofessor für Marketing an der Universität Virginia, haben auf der Plattform "The Conversation" ihre Erkenntnisse zu diesem Thema geteilt.
Die Neigung, andere Aufgaben zu priorisieren – wie etwa das Putzen des Badezimmers – anstatt den Kontostand zu überprüfen, ist bei vielen Menschen zu beobachten und weist oft auf tiefere finanzielle Sorgen hin. Der Straußeneffekt ist benannt nach dem Verhalten des Vogels, der angeblich seinen Kopf in den Sand steckt, um Gefahren zu ignorieren. Bei Menschen äußert sich dies durch das Ignorieren des Kontostandes, was oft die psychologische Belastung kurzfristig verringert.
Drei psychologische Mechanismen sind zentral für das Verständnis dieses Phänomens. Erstens, der Impact-Effekt: Die konkrete Auseinandersetzung mit finanziellen Problemen wird oft als bedrohlicher empfunden als die ungewisse Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Zweitens erfordert die Konfrontation mit der Realität oft unangenehme Anpassungen im Ausgabeverhalten. Drittens spielt die mentale Stärke eine Rolle, denn wer sich psychisch robust fühlt, kann schlechte Nachrichten besser verarbeiten.
Die Experten empfehlen, spezifische Tage für die Überprüfung der Finanzen festzulegen und Routinen zu entwickeln, die helfen, Ausgaben zu kontrollieren und impulsive Käufe zu reduzieren. Langfristig gesehen, führt das Bewusstsein über das Ausgabenverhalten und nicht nur über den Kontostand zu besseren finanziellen Entscheidungen.
Der Straußeneffekt spiegelt eine tief verwurzelte menschliche Neigung wider: die Vermeidung von Konfrontation mit unangenehmen Wahrheiten. Diese Verhaltensweise, obwohl psychologisch verständlich, kann langfristig zu schwerwiegenden finanziellen Problemen führen. Die Vorschläge der Experten, wie das Einrichten fester Tage zur Überprüfung der eigenen Finanzen und das Entwickeln von Routinen zur Ausgabenkontrolle, sind praktische Ansätze, um diesem impulsiven Verhalten entgegenzuwirken. Es ist ein wichtiger Schritt in Richtung finanzieller Selbstverantwortung und kann vielen helfen, ihre wirtschaftliche Situation realistischer und effektiver zu gestalten.
Arzneimittelversorgung und soziale Gerechtigkeit: Ein dringendes Anliegen
Professor Gerhard Trabert, renommierter Sozialmediziner und Gründer des Vereins "Armut und Gesundheit", hat in einem aufschlussreichen Interview die tiefe Verbindung zwischen Armut und Gesundheit herausgestellt. Trabert, der sich seit Jahren für die medizinische Versorgung sozial benachteiligter Gruppen stark macht, erörterte die Rolle der Apotheken im Kampf gegen gesundheitliche Ungleichheit.
Laut Trabert führt Armut häufig zu einem schlechteren Gesundheitszustand, was durch zahlreiche Studien, wie die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, belegt wird. Insbesondere Kinder aus einkommensschwachen Familien leiden demnach häufiger an Infektions- und psychischen Erkrankungen. Erwachsene in prekären Lebenslagen erfahren oft eine Spirale der Verarmung durch gesundheitliche Probleme.
Im Zentrum des Engagements seines Vereins steht die "Poliklinik ohne Grenzen" in Mainz, ein Projekt, das medizinische Hilfe ohne bürokratische Hürden anbietet. Apotheken spielen dabei eine essenzielle Rolle, indem sie Medikamente ohne sofortige Bezahlung der Rezeptgebühren an bedürftige Patienten ausgeben, wobei der Verein diese Kosten später übernimmt.
Die aktuelle Situation in Deutschland, wo über 14 Millionen Menschen von Armut betroffen sind, macht deutlich, wie dringend Handlungsbedarf besteht. Trabert kritisiert, dass die hohen Kosten für Medikamente und die damit verbundenen Rezeptgebühren besonders für ärmeren Menschen eine erhebliche Barriere darstellen. Er schlägt vor, die Rezeptgebühren für alle Empfänger von Sozialleistungen abzuschaffen, um die Medikamenten-Compliance und die allgemeine Gesundheitsversorgung zu verbessern.
Trabert betont auch die Notwendigkeit einer umfassenderen Reform des Gesundheitssystems. Seiner Meinung nach würde eine Bürgerversicherung, die das duale Krankenversicherungssystem ablöst, zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen führen und jedem den Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung ermöglichen.
Die Ausführungen von Professor Gerhard Trabert werfen ein grelles Licht auf die Schattenseiten unseres Gesundheitssystems, in dem der sozioökonomische Status eines Menschen über dessen Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten und Behandlungen entscheiden kann. Die Idee der "Poliklinik ohne Grenzen" zeigt, dass es praktikable Modelle gibt, um diese Missstände anzugehen, doch die Verantwortung kann und sollte nicht allein bei einzelnen Initiativen liegen.
Es ist an der Zeit, dass die Politik diese Herausforderungen als integralen Bestandteil ihrer Agenda begreift und strukturelle Veränderungen herbeiführt, die nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen der gesundheitlichen Ungleichheit bekämpfen. Die Einführung einer Bürgerversicherung könnte ein mutiger Schritt in diese Richtung sein, um sicherzustellen, dass Gesundheitsversorgung – ein fundamentales Menschenrecht – für alle Menschen in Deutschland zugänglich ist.
Arzneimittelversorgung und soziale Gerechtigkeit: Ein dringendes Anliegen
Professor Gerhard Trabert, renommierter Sozialmediziner und Gründer des Vereins "Armut und Gesundheit", hat in einem aufschlussreichen Interview die tiefe Verbindung zwischen Armut und Gesundheit herausgestellt. Trabert, der sich seit Jahren für die medizinische Versorgung sozial benachteiligter Gruppen stark macht, erörterte die Rolle der Apotheken im Kampf gegen gesundheitliche Ungleichheit.
Laut Trabert führt Armut häufig zu einem schlechteren Gesundheitszustand, was durch zahlreiche Studien, wie die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, belegt wird. Insbesondere Kinder aus einkommensschwachen Familien leiden demnach häufiger an Infektions- und psychischen Erkrankungen. Erwachsene in prekären Lebenslagen erfahren oft eine Spirale der Verarmung durch gesundheitliche Probleme.
Im Zentrum des Engagements seines Vereins steht die "Poliklinik ohne Grenzen" in Mainz, ein Projekt, das medizinische Hilfe ohne bürokratische Hürden anbietet. Apotheken spielen dabei eine essenzielle Rolle, indem sie Medikamente ohne sofortige Bezahlung der Rezeptgebühren an bedürftige Patienten ausgeben, wobei der Verein diese Kosten später übernimmt.
Die aktuelle Situation in Deutschland, wo über 14 Millionen Menschen von Armut betroffen sind, macht deutlich, wie dringend Handlungsbedarf besteht. Trabert kritisiert, dass die hohen Kosten für Medikamente und die damit verbundenen Rezeptgebühren besonders für ärmeren Menschen eine erhebliche Barriere darstellen. Er schlägt vor, die Rezeptgebühren für alle Empfänger von Sozialleistungen abzuschaffen, um die Medikamenten-Compliance und die allgemeine Gesundheitsversorgung zu verbessern.
Trabert betont auch die Notwendigkeit einer umfassenderen Reform des Gesundheitssystems. Seiner Meinung nach würde eine Bürgerversicherung, die das duale Krankenversicherungssystem ablöst, zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen führen und jedem den Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung ermöglichen.
Die Ausführungen von Professor Gerhard Trabert werfen ein grelles Licht auf die Schattenseiten unseres Gesundheitssystems, in dem der sozioökonomische Status eines Menschen über dessen Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten und Behandlungen entscheiden kann. Die Idee der "Poliklinik ohne Grenzen" zeigt, dass es praktikable Modelle gibt, um diese Missstände anzugehen, doch die Verantwortung kann und sollte nicht allein bei einzelnen Initiativen liegen.
Es ist an der Zeit, dass die Politik diese Herausforderungen als integralen Bestandteil ihrer Agenda begreift und strukturelle Veränderungen herbeiführt, die nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen der gesundheitlichen Ungleichheit bekämpfen. Die Einführung einer Bürgerversicherung könnte ein mutiger Schritt in diese Richtung sein, um sicherzustellen, dass Gesundheitsversorgung – ein fundamentales Menschenrecht – für alle Menschen in Deutschland zugänglich ist.
Die unsichtbare Epidemie: Tuberkulose und ihre fortwährende Bedrohung im globalen Kontext
Tuberkulose (TB), eine der ältesten bekannten Infektionskrankheiten, bleibt eine ernsthafte globale Gesundheitsbedrohung, die jedes Jahr Millionen von Menschenleben fordert. Trotz bedeutender Fortschritte in der medizinischen Forschung und verbesserten Behandlungsmethoden ist TB weltweit die tödlichste bakterielle Infektionskrankheit, mit schätzungsweise 10,6 Millionen neuen Fällen und etwa 1,3 Millionen Todesfällen im Jahr 2023, laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Die Krankheit trifft vor allem die ärmsten Schichten der Gesellschaft, wo schlechte Wohnbedingungen, Unterernährung und mangelnder Zugang zu qualitativer Gesundheitsversorgung eine schnelle Ausbreitung begünstigen. Länder wie Indien, Indonesien, China, die Philippinen und Bangladesch verzeichnen die höchsten TB-Raten, gefolgt von Staaten in Afrika und Südostasien, die ebenfalls stark betroffen sind.
In Deutschland ist die Lage anders. Hier wird Tuberkulose als eine kontrollierbare Krankheit angesehen, mit jährlich stabilen, aber niedrigen Infektionsraten. Das Robert-Koch-Institut meldete für 2023 etwas mehr als 4400 Fälle, hauptsächlich bei Personen, die nicht in Deutschland geboren wurden. Dieser leichte Anstieg der Fallzahlen wird oft mit Migrationsbewegungen in Verbindung gebracht.
Die Behandlung der Tuberkulose ist komplex und langwierig. Die Standardtherapie besteht aus einer Kombination von Antibiotika über einen Zeitraum von sechs Monaten, die bei rechtzeitiger Diagnose und konsequenter Anwendung zur Heilung führt. Jedoch stellen resistente TB-Stämme eine wachsende Herausforderung dar. Die WHO hat auf diese Bedrohung reagiert, indem sie neuere, verkürzte Therapieschemata empfiehlt, die allerdings in der EU aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit bestimmter Medikamente noch nicht weit verbreitet sind.
Tuberkulose bleibt ein Spiegelbild globaler Ungleichheiten und eine Erinnerung daran, dass Gesundheitsversorgung ein universelles Menschenrecht sein sollte. Die Tatsache, dass TB in einigen der reichsten Länder der Welt als nahezu ausgerottet gilt, während sie in ärmeren Regionen weiterhin Tausende Leben fordert, wirft ein scharfes Licht auf die sozialen und ökonomischen Diskrepanzen unserer Zeit. Der Kampf gegen Tuberkulose erfordert daher nicht nur medizinische, sondern auch soziale und ökonomische Interventionen. Investitionen in bessere Lebensbedingungen, Ernährungssicherheit und den Zugang zu Gesundheitsdiensten sind ebenso wichtig wie die Entwicklung und Bereitstellung effektiver Medikamente. Die internationale Gemeinschaft muss sich dieser Herausforderung stellen und verstärkte Anstrengungen unternehmen, um die Ressourcen bereitzustellen, die benötigt werden, um Tuberkulose weltweit zurückzudrängen. Es ist eine moralische Pflicht, sicherzustellen, dass Fortschritte in der Gesundheitsversorgung allen Menschen zugutekommen, unabhängig von ihrem geografischen oder sozialen Standort.
Wenn Hunger Realität wird: Ernährungsarmut in Deutschland nimmt zu
In Deutschland können sich Millionen Menschen trotz Wohlstand nicht ausreichend oder gesund ernähren. Der Sozialbericht 2024 des Statistischen Bundesamts zeigt alarmierende Zahlen: 15 Prozent der Bevölkerung – mehr als zwölf Millionen Menschen – gelten als armutsgefährdet. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Senioren und Alleinlebende. Die Folge: Mahlzeiten werden ausgelassen, gesunde Lebensmittel wie Obst und Gemüse sind für viele unerschwinglich, und günstige, energiedichte Nahrungsmittel dominieren den Speiseplan.
Eine aktuelle Studie der Universität Hohenheim und der Berliner Charité, deren Ergebnisse im DGE-Gesundheitsbericht veröffentlicht wurden, unterstreicht das Problem. Knapp ein Viertel der befragten armutsgefährdeten Familien war von Ernährungsunsicherheit betroffen. Der Zugang zu ausreichenden und nahrhaften Lebensmitteln ist für sie erheblich eingeschränkt. Viele Betroffene geben an, Mahlzeiten auszulassen oder nur noch günstige, wenig nahrhafte Produkte zu konsumieren. Auch die soziale Komponente ist gravierend: Fast 70 Prozent der Elternteile verzichten aus Scham auf gemeinschaftliche Essenstreffen oder Einladungen.
Die gesundheitlichen Folgen sind weitreichend. Jedes fünfte Kind aus armutsgefährdeten Haushalten ist übergewichtig, jedes zehnte sogar adipös. Das sind Werte, die deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen. Bei Erwachsenen ist die Situation ebenso besorgniserregend: Über die Hälfte der Befragten leidet unter chronischen Erkrankungen oder psychischen Belastungen. Ernährungsunsicherheit und psychische Gesundheit beeinflussen sich wechselseitig – ein Kreislauf, der schwer zu durchbrechen ist.
Viele Familien greifen auf Lebensmittelspenden und Tafeln zurück, um über die Runden zu kommen. Gleichzeitig wächst die Forderung nach strukturellen Lösungen. Experten sprechen sich für eine Besteuerung ungesunder, zuckerhaltiger Produkte und eine Subventionierung von Obst und Gemüse aus. Ein systematisches Monitoring und verstärkte Aufklärung könnten das Problem lindern, doch ohne klare politische Maßnahmen bleibt Ernährungsarmut in Deutschland ein untragbarer Zustand.
Dass in einem der wohlhabendsten Länder der Welt Menschen hungern oder sich keine gesunde Ernährung leisten können, ist ein gesellschaftlicher Skandal. Ernährungsarmut trifft die Schwächsten: Kinder, Alleinerziehende und Senioren. Wenn Eltern Mahlzeiten auslassen, um ihre Kinder zu schützen, oder sich schämen, ihre Ernährungssituation offenzulegen, zeigt dies, wie tief das Problem reicht.
Das Wegsehen der Politik ist nicht länger tragbar. Es reicht nicht, Symptome zu lindern, indem man Tafeln unterstützt oder auf individuelle Sparstrategien verweist. Notwendig sind langfristige Maßnahmen, die auf strukturelle Ursachen abzielen: Die Preise für gesunde Lebensmittel müssen sinken, ungesunde Produkte stärker reguliert werden. Gleichzeitig braucht es eine gezielte Förderung von Ernährungsbildung, damit Familien unabhängig von ihrem Einkommen eine ausgewogene Ernährung umsetzen können.
Deutschland muss sich der Verantwortung stellen. Wer Ernährungsarmut ignoriert, gefährdet nicht nur die Gesundheit von Millionen, sondern auch die Zukunft ganzer Generationen. Eine gesunde Ernährung darf kein Luxus sein. Sie ist ein Grundrecht.
Von Engin Günder, Fachjournalist