Die AOK Nordost hat zahlreiche Apotheken dazu aufgefordert, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten, um mögliche Rückforderungen im Zusammenhang mit der Insolvenz des Rechenzentrums AvP geltend machen zu können. Im Fokus stehen Abschlagszahlungen, die die Kasse unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Abrechnungsdienstleisters an Apotheken überwiesen hat. Dabei handelt es sich teilweise um erhebliche Beträge, die einzelnen Apotheken große finanzielle Risiken aufbürden – in einigen Fällen bis zu 600.000 Euro.
Für Apothekenbetreiber, die durch die Insolvenz von AvP bereits erhebliche wirtschaftliche Verluste erlitten haben, ist dies ein erneuter Schlag. Viele Apotheken hatten damals auf die Liquiditätsflüsse aus den Rezeptabrechnungen vertraut, die von einem auf den anderen Tag versiegten. Nun drohen sie erneut zur Kasse gebeten zu werden, obwohl sie bereits durch unbezahlte Forderungen im Zuge der AvP-Insolvenz betroffen waren. Branchenvertreter und Juristen sind sich uneinig über die rechtliche Grundlage der Rückforderungen. Kritiker argumentieren, dass die Zahlungen zum Zeitpunkt der Überweisung rechtmäßig und als Teil regulärer Abrechnungsprozesse erfolgt seien. Befürworter der AOK-Forderung hingegen verweisen auf potenziell ungerechtfertigte Bereicherungen, die durch die Insolvenz entstanden sein könnten.
Rechtsanwälte, die Apotheken in diesem Fall vertreten, raten eindringlich davon ab, der Aufforderung der Krankenkasse vorschnell nachzukommen. Der Verzicht auf die Verjährungseinrede könnte weitreichende Konsequenzen haben, denn er öffnet die Tür für Forderungen, die möglicherweise nicht rechtswirksam durchgesetzt werden können. Viele Apotheken haben jedoch weder die finanziellen Mittel noch die rechtliche Expertise, um eine langwierige Auseinandersetzung mit der Krankenkasse zu führen. Dadurch entsteht ein Machtgefälle, das die ohnehin angespannte Situation vieler Betriebe weiter verschärft.
Der AvP-Skandal verdeutlicht zudem strukturelle Schwächen im System der Rezeptabrechnung. Obwohl Apotheken essenzielle Gesundheitsdienstleister sind, fehlt es an einem ausreichenden Schutzmechanismus, der sie vor den Folgen von Insolvenzen privater Abrechnungsdienstleister bewahrt. Vertrauensschaden-Versicherungen könnten hier Abhilfe schaffen. Diese speziellen Policen schützen vor finanziellen Schäden, die durch Insolvenzen oder andere Verfehlungen von Vertragspartnern entstehen. Allerdings zeigt sich, dass viele Apothekenbetreiber bislang auf diese Form der Absicherung verzichten – sei es aus Unkenntnis, aus Kostengründen oder aufgrund eines falschen Sicherheitsgefühls.
Die Apothekerschaft steht daher vor der dringenden Aufgabe, ihr Risikomanagement zu professionalisieren. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Politik nicht stärker in die Pflicht genommen werden sollte, um ein sicheres und transparentes Abrechnungssystem zu gewährleisten. Die AvP-Insolvenz hat nicht nur ein einzelnes Unternehmen zu Fall gebracht, sondern das Vertrauen in die gesamte Struktur der Rezeptabrechnung erschüttert.
Kommentar:
Der Fall AvP zeigt mit brutaler Deutlichkeit, wie unzureichend die Apothekenbranche auf Krisenszenarien vorbereitet ist. Dass die AOK Nordost nun massive Rückforderungen an Apotheken stellt und gleichzeitig auf den Verzicht der Verjährungseinrede drängt, ist nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern auch moralisch höchst bedenklich. Apotheken haben als systemrelevante Einrichtungen während der Pandemie eine zentrale Rolle gespielt und wurden dennoch immer wieder mit zusätzlichen bürokratischen und finanziellen Belastungen konfrontiert. Nun droht vielen von ihnen erneut das finanzielle Aus – nicht, weil sie Fehler gemacht haben, sondern weil sie in einem unregulierten System operieren mussten, das ihnen keinerlei Schutz bietet.
Die Aufforderung der Krankenkasse, auf die Verjährungseinrede zu verzichten, ist ein taktisches Manöver, das von der ungleichen Machtverteilung zwischen Kassen und Apotheken profitiert. Es zeigt, wie wenig Rücksicht auf die wirtschaftliche Realität vieler Apotheken genommen wird. Die betroffenen Betreiber stehen vor der Wahl, entweder eine rechtlich unklare Forderung anzufechten, was mit hohen Kosten und Risiken verbunden ist, oder sie widerstandslos zu akzeptieren und dadurch ihre ohnehin angespannte finanzielle Lage weiter zu verschlechtern.
Gleichzeitig wird deutlich, wie wichtig ein struktureller Wandel ist. Die Insolvenz von AvP war kein Einzelfall, sondern ein Symptom eines Systems, das grundlegende Reformen benötigt. Warum gibt es keine verpflichtenden Sicherungsmechanismen, die Apotheken vor Insolvenzen privater Abrechnungsdienstleister schützen? Warum wird nicht stärker auf Transparenz und Regulierung gesetzt? Und warum bleibt die Politik weitgehend untätig, obwohl die Probleme seit Jahren bekannt sind?
Es ist dringend an der Zeit, dass die Apothekerschaft aus diesem Fall lernt und präventive Maßnahmen ergreift. Vertrauensschaden-Versicherungen sollten längst zum Standard gehören, genauso wie eine umfassende rechtliche Beratung bei Verträgen mit Abrechnungszentren. Aber auch die Politik darf nicht länger wegsehen. Es braucht ein einheitliches und verpflichtendes System zur Absicherung von Apotheken. Der Schutz der Apotheken ist letztlich auch der Schutz der Patientenversorgung – und diese darf nicht länger durch systemische Versäumnisse gefährdet werden.
Von Engin Günder, Fachjournalist