Der Streit um die sogenannte Hilfstaxe erreicht eine neue Dimension: Der Deutsche Apothekerverband (DAV) plant laut übereinstimmenden Informationen aus Verbandskreisen eine Serie von Musterklagen gegen den GKV-Spitzenverband. Hintergrund ist die seit Jahren ungelöste Frage der Vergütung parenteraler Zubereitungen, insbesondere von onkologischen Arzneimitteln, deren Herstellung in spezialisierten Apotheken erfolgt. Nach der einseitigen Kündigung der Hilfstaxe-Vereinbarung durch die gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2020 fehlen klare vertragliche Regelungen. Seither operieren Apotheken in einer rechtlichen Grauzone, die immer häufiger zu Abrechnungsstreitigkeiten, Retaxationen und wirtschaftlicher Unsicherheit führt.
Die Hilfstaxe regelte ursprünglich die Preisgestaltung für individuell hergestellte Arzneimittel auf Basis einer zwischen DAV und GKV-Spitzenverband geschlossenen Vereinbarung. Sie legte neben den Wirkstoffkosten auch Zuschläge für Herstellung, Personal, Material, Dokumentation und Lagerhaltung fest. Diese Regelung diente über Jahre als verbindliche Abrechnungsgrundlage für tausende Rezepturen, insbesondere im Bereich der Zytostatika. Mit der Kündigung des Rahmenvertrags durch den GKV-Spitzenverband entfiel die rechtliche Bindung, doch mangels alternativer Regelung wird die Taxe weiterhin angewendet – ohne echte Rechtsgrundlage.
In der Praxis führt dieser Zustand zunehmend zu Spannungen. Apotheken rechnen ihre individuell hergestellten Arzneimittel weiterhin auf Basis der fortgeschriebenen Hilfstaxe ab, sehen sich jedoch vermehrt mit Kürzungen oder vollständigen Retaxationen konfrontiert. Die Begründungen der Kassen reichen von angeblicher Unwirtschaftlichkeit über formale Beanstandungen bis hin zu abweichenden Berechnungsmodellen. Die Folge ist ein wachsender wirtschaftlicher Druck auf Apotheken, die Herstellung solcher Präparate trotz steigender Anforderungen, knapper Wirkstoffe und gestiegener Betriebskosten weiterhin aufrechterhalten.
Der DAV sieht sich nun zu einer grundsätzlichen juristischen Klärung gezwungen. Mehrere Musterklagen sollen vorbereitet werden, um zentrale Fragen zur Anwendbarkeit, Verbindlichkeit und Berechnungslogik der Hilfstaxe sozialgerichtlich prüfen zu lassen. Im Fokus stehen dabei insbesondere die rechtliche Zulässigkeit der Fortgeltung alter Vertragsregelungen ohne neue Vereinbarung, die Abrechnungspraxis bei fehlender Vergütungsvereinbarung sowie die Frage, ob die Krankenkassen berechtigt sind, einseitige Kürzungen durchzusetzen.
Für die Durchführung der Klagen ist der DAV auf die aktive Mitwirkung betroffener Apotheken angewiesen. Diese sollen als Kläger auftreten und konkrete Abrechnungsfälle einbringen, die exemplarisch für die Problematik stehen. Aus Sicht des DAV ist dies notwendig, da nur reale Praxisfälle die juristisch erforderliche Fallhöhe erzeugen. Entsprechend wird aktuell in der Apothekerschaft gezielt nach geeigneten Fällen gesucht. Die Bereitschaft zur Mitwirkung scheint groß – nicht zuletzt deshalb, weil viele Apotheken durch die aktuelle Unsicherheit in wirtschaftliche Bedrängnis geraten sind.
Parallel zu den juristischen Vorbereitungen setzt der DAV auch auf politischen Druck. Immer wieder war in den vergangenen Jahren versucht worden, mit dem GKV-Spitzenverband neue Vergütungsregelungen zu verhandeln. Diese Gespräche scheiterten jedoch regelmäßig – vor allem an der Frage der Höhe der Zuschläge. Während die Kassen ein stärkeres Kostenbewusstsein einforderten, pochte der DAV auf eine realitätsnahe Abbildung der tatsächlichen Aufwände. Zu einer Einigung kam es bislang nicht. Die nun angestrebten Musterverfahren könnten diesen Stillstand aufbrechen – allerdings um den Preis einer möglicherweise mehrjährigen gerichtlichen Auseinandersetzung.
Der GKV-Spitzenverband hält sich bislang öffentlich bedeckt. Er verweist auf laufende interne Bewertungen und sieht laut früheren Aussagen die Hilfstaxe in ihrer bisherigen Form als veraltet und wirtschaftlich unangemessen an. Ein eigenes Konzept zur künftigen Vergütung parenteraler Rezepturen liegt bislang nicht vor. Auch das Bundesgesundheitsministerium hat sich bisher nicht zu dem anstehenden Rechtsstreit geäußert, obwohl die Problematik seit Jahren bekannt ist und die flächendeckende Versorgung mit Zytostatika zunehmend unter Druck gerät.
Fachkreise beobachten die Entwicklung mit Sorge. Sollte die juristische Klärung zugunsten der Apotheken ausfallen, könnte dies ein Signal für eine Neuausrichtung der Vergütungssystematik sein. Im umgekehrten Fall droht eine Schwächung der wirtschaftlichen Basis vieler Herstellbetriebe – mit potenziellen Folgen für die Versorgung onkologischer Patienten, insbesondere in ländlichen Regionen.
Kommentar:
Der juristische Vorstoß des Deutschen Apothekerverbands markiert eine Zäsur in der langjährigen Auseinandersetzung um die Hilfstaxe – und ist letztlich Ausdruck einer tiefgreifenden Systemkrise. Was einst als partnerschaftlich verhandeltes Vergütungssystem begann, ist zu einem Streitpunkt mit unklaren Spielregeln und wachsenden Risiken für die Versorgung geworden. Die Kündigung der Hilfstaxe durch den GKV-Spitzenverband mag aus Sicht der Kassen wirtschaftlich motiviert gewesen sein, doch sie hat ein Vakuum hinterlassen, das seither nicht geschlossen wurde. Dieses Vakuum trifft nun ausgerechnet jene Apotheken, die unter hohem Aufwand individuell hergestellte Arzneimittel für schwerkranke Menschen bereitstellen – und dabei täglich zwischen Versorgungsauftrag und ökonomischer Zumutbarkeit abwägen müssen.
Dass der DAV nun den Klageweg beschreitet, ist ein Schritt der Notwendigkeit, nicht der Wahl. Denn während der politische Wille zur Einigung fehlt und die Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband offenbar festgefahren sind, geraten immer mehr Apotheken an ihre Belastungsgrenze. Die Tatsache, dass selbst wirtschaftlich solide Betriebe ihre Herstellungstätigkeit einschränken oder einstellen, zeigt die Dimension des Problems. Es geht längst nicht mehr nur um Centbeträge oder formale Fragen der Kalkulation – es geht um die grundsätzliche Frage, ob individuelle pharmazeutische Leistung in Deutschland noch einen stabilen rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmen hat.
Die Einbindung der Apotheken in die juristische Strategie ist richtig, aber auch mutig. Denn mit jedem Fall, der vor Gericht gebracht wird, gehen die betreffenden Apotheken ein Risiko ein – finanziell, zeitlich und strukturell. Doch ohne diese Einzelfälle lässt sich die Rechtsprechung nicht bewegen. Der DAV steht nun in der Verantwortung, seine Mitglieder auf diesem Weg professionell zu begleiten, sie juristisch zu stützen und die politische Dimension nicht aus den Augen zu verlieren.
Was in den kommenden Monaten geschieht, wird nicht nur die Zukunft der Hilfstaxe bestimmen. Es wird zeigen, ob der Rechtsstaat bereit ist, pharmazeutisches Engagement und patientenindividuelle Versorgung als schützenswert anzuerkennen – oder ob wirtschaftlicher Druck und formale Interpretationen das letzte Wort behalten. In jedem Fall muss das Ziel eine tragfähige, rechtssichere und faire Vergütungsregelung sein. Alles andere gefährdet nicht nur Apotheken – sondern vor allem die Menschen, die auf ihre Leistungen angewiesen sind.
Von Engin Günder, Fachjournalist