Mit der Einführung des elektronischen Rezepts (E-Rezept) in Deutschland hat sich eine bedeutende Wende im Gesundheitswesen vollzogen. Diese Neuerung, die Anfang 2024 eingeführt wurde, zielte darauf ab, die Arzneimittelversorgung zu digitalisieren und den Prozess der Medikamentenausgabe effizienter zu gestalten. Doch weit über die technische Umsetzung hinaus hat das E-Rezept das Kaufverhalten der Verbraucher und die Betriebsweise der Pharmaindustrie grundlegend verändert.
Die Anpassung der Apotheken an diese digitale Innovation erfordert eine tiefgreifende Überholung ihrer Geschäftsmodelle. Traditionelle Apotheken sehen sich zunehmend dem Druck ausgesetzt, mit Online-Plattformen zu konkurrieren, die eine schnelle und oft kostengünstigere Lieferung direkt nach Hause bieten. Insbesondere in städtischen Gebieten nutzen viele Kunden die Vorteile des Online-Versandes, der durch das E-Rezept weiter erleichtert wird.
Eine von dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) durchgeführte Studie, an der über tausend Kunden teilnahmen, zeigt, dass ein signifikanter Anteil der Bevölkerung bereit ist, für den Komfort des Online-Kaufs zu zahlen. Etwa 37% der Befragten, die E-Rezepte online einlösten, gaben an, zusätzliche OTC-Produkte (Over-The-Counter) zu erwerben. Im Gegensatz dazu haben in stationären Apotheken 43% der Kunden angegeben, dass sie neben ihren verschriebenen Medikamenten auch OTC-Produkte erwerben. Diese Zahlen offenbaren eine Verschiebung der Kaufgewohnheiten, die durch die bequeme Verfügbarkeit und die Diskretion des Online-Einkaufs weiter verstärkt wird.
Ein weiteres Kernthema, das sich aus der Einführung des E-Rezeptes ergibt, ist die Rolle der persönlichen Beratung. Während einige Verbraucher die persönliche Interaktion und die fachliche Beratung schätzen, die sie in stationären Apotheken erfahren, sehen andere den Vorteil darin, Medikamente ohne den direkten Kontakt zu Apothekenpersonal zu erhalten. Dies stellt eine Herausforderung für traditionelle Apotheken dar, die um die Aufmerksamkeit von Kunden kämpfen, die zunehmend Wert auf Datenschutz und Anonymität legen.
Die Unterschiede in der Wahrnehmung der Kunden und der Apotheken hinsichtlich der Bedeutung des persönlichen Kontakts und der Beratung sind signifikant. Während viele Apotheker glauben, dass die Qualität ihrer Beratung ein entscheidender Faktor für die Kunden ist, legen die Studienergebnisse nahe, dass viele Kunden die Unabhängigkeit des Online-Einkaufs bevorzugen. Dies könnte langfristig zu einer Verschiebung in der Apothekenlandschaft führen, bei der digitale Dienstleistungen zunehmend in den Vordergrund treten.
Kommentar:
Die Einführung des E-Rezepts in Deutschland ist mehr als nur eine administrative Änderung; sie ist ein Symptom und ein Katalysator für tiefergehende Veränderungen im Gesundheitswesen. Während die Vorteile klar sind, wie etwa die Verbesserung der Effizienz und die Reduzierung von Papierkram, so sind doch die langfristigen Auswirkungen auf die traditionellen Apotheken besorgniserregend.
Die Anpassungsfähigkeit und die Innovationsbereitschaft der Apotheken werden in den kommenden Jahren auf die Probe gestellt. Apotheken müssen über den Tellerrand hinausdenken und Wege finden, sich in einer zunehmend digitalisierten Welt zu behaupten. Dies könnte bedeuten, dass sie eigene Online-Vertriebskanäle entwickeln oder spezielle Dienstleistungen anbieten, die über das hinausgehen, was eine digitale Plattform bieten kann.
Es ist unerlässlich, dass die Apothekenbranche die technologische Entwicklung als Chance begreift, den Wert der persönlichen Beratung neu zu definieren und zu stärken. Apotheker müssen als unverzichtbare Teilnehmer im Gesundheitswesen positioniert werden, deren Fachwissen und persönlicher Einsatz durch keine digitale Plattform vollständig ersetzt werden kann. Die Zukunft wird denen gehören, die sowohl die technischen als auch die menschlichen Aspekte der Pharmazie erfolgreich integrieren können, um den sich wandelnden Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden.
Von Engin Günder, Fachjournalist