Am 11. Dezember 2024 ereignete sich ein unerwarteter Paukenschlag in der deutschen Apothekerschaft: Gabriele Regina Overwiening, seit Januar 2021 amtierende Präsidentin der ABDA, wurde bei der Mitgliederversammlung nicht wiedergewählt. Ein solches Ergebnis hatte in Berlin wohl niemand erwartet, am allerwenigsten ohne einen Gegenkandidaten. Die Reaktionen reichten von Verwunderung über Bestürzung bis hin zu Entsetzen.
Diese Wahl warf nicht nur Fragen zur Zukunft der Standesvertretung auf, sondern legte auch innerverbandliche Spannungen offen. Die ABDA steht vor einer Phase der Unsicherheit, da eine neue Mitgliederversammlung einberufen werden muss, um über die Nachfolge zu entscheiden. Der Versuch eines Denkzettels endete in einem organisatorischen Debakel, das die Apothekerschaft in eine schwierige Lage bringt.
Hintergrund der Abwahl
Die Abwahl Overwienings scheint weniger in einer unzureichenden Bilanz ihrer Amtszeit begründet zu sein, sondern vielmehr in Kritik an ihrem Führungsstil. Häufig wurden Begriffe wie „One-Woman-Show“ oder „Königin“ verwendet, um ihre angebliche Dominanz zu beschreiben. Vorwürfe reichten von unabgestimmten Alleingängen bis hin zur Sicherung ihrer Macht durch die neue ABDA-Satzung. Trotz ihrer einnehmenden Persönlichkeit und ihres Charmes, die insbesondere das Verhältnis zu anderen Gesundheitsberufen verbesserten, wurde ihre „westfälische Sturheit“ oft als hinderlich für Kompromisse und Diskurse empfunden.
Eine gemischte Bilanz
Overwienings Amtszeit war von ambitionierten Zielen geprägt. Nach ihrer Wahl 2020 hatte sie drei Kernaufgaben formuliert: die Stabilisierung der Vor-Ort-Apotheken, die aktive Mitgestaltung der Digitalisierung und die Etablierung pharmazeutischer Dienstleistungen (pDL) als neue Vergütungssäule.
Die Einführung des E-Rezepts gilt als ein Erfolg, der ohne die aktive Mitwirkung der Apothekerschaft kaum denkbar gewesen wäre. Apotheken waren „E-Rezept-ready“, noch bevor viele Arztpraxen die technischen Voraussetzungen geschaffen hatten. Doch die Digitalisierung allein konnte die anhaltende Negativentwicklung der Apothekenzahlen nicht aufhalten. Ende 2020 gab es noch 18.753 Apothekenstandorte, während Ende des dritten Quartals 2024 nur noch 17.187 verzeichnet wurden. Das entspricht einem Rückgang von über 1500 Apotheken in weniger als vier Jahren.
Die wirtschaftliche Lage bleibt angespannt. Eine substanzielle Honorarerhöhung wurde während ihrer Amtszeit nicht erreicht. Die pharmazeutischen Dienstleistungen, die seit Sommer 2022 abrechenbar sind, könnten theoretisch neue Einnahmen generieren. Doch bisher wurden nur geringe Summen aus dem vorgesehenen 150-Millionen-Euro-Budget abgerufen, was auf Zurückhaltung bei der Umsetzung hindeutet.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die sogenannte Bagatellisierung von Arzneimitteln. Weder gegen die telemedizinische Verordnung durch Online-Plattformen noch gegen den Verkauf über Marktplätze wie eBay wurden entscheidende Schritte unternommen. Auch der Versand verschreibungspflichtiger Arzneimittel blieb ein ungelöstes Problem.
Erfolg und Zusammenhalt
Trotz der Kritikpunkte gelang es Overwiening, die Apothekerschaft in schwierigen Momenten zu einen. Besonders hervorzuheben ist der bundesweite Protesttag im Juni 2023, an dem über 90 Prozent der Apotheken geschlossen blieben. Die ABDA schaffte es, den Berufstand geschlossen auftreten zu lassen und eine noch nie dagewesene mediale Aufmerksamkeit zu erlangen. Overwiening wurde dabei oft als sympathisches und eloquentes Gesicht der Apothekerschaft wahrgenommen, was ihr viele Sympathien einbrachte.
Offene Fragen zur Zukunft
Die Abwahl Overwienings stellt die ABDA vor eine ungewisse Zukunft. Während einige Beobachter die Hoffnung auf einen Neuanfang hegen, bleibt die Frage, ob jemand anderes mehr hätte erreichen können. Mit einem Gesundheitsminister wie Karl Lauterbach, der den Interessen der Apothekerschaft wenig Beachtung schenkt, waren die Rahmenbedingungen denkbar ungünstig. Dennoch hat Overwiening gezeigt, dass sie in entscheidenden Momenten für den Berufsstand einstehen konnte. Ihre Abwahl wirft daher auch die Frage auf, ob diese wirklich gerechtfertigt war.
Kommentar: Eine Abwahl mit weitreichenden Folgen
Die Abwahl von Gabriele Regina Overwiening markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der ABDA und der gesamten deutschen Apothekerschaft. Doch was bedeutet dieses Ereignis wirklich? Handelt es sich um eine notwendige Kurskorrektur oder um einen fatalen Fehltritt?
Zweifellos war Overwienings Amtszeit von Herausforderungen geprägt, die tief in den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verwurzelt sind. Die Digitalisierung der Apotheken war ein herausragendes Beispiel für den Fortschritt, den die Standesvertretung unter ihrer Führung erzielen konnte. Doch der kontinuierliche Rückgang der Apothekenzahlen und die stagnierende Honorarentwicklung offenbaren die Grenzen dessen, was überhaupt erreichbar war. Die Kritik an ihrem Führungsstil mag berechtigt sein, doch stellt sich die Frage, ob dies genügt, um eine solche Persönlichkeit aus dem Amt zu drängen.
Ein zentraler Aspekt bleibt die fehlende Honorarerhöhung. Während die ABDA lautstark für die Interessen der Apotheken eintrat, blieb die Resonanz in der Politik gering. Dass dies allein Overwiening anzulasten ist, greift jedoch zu kurz. Die politische Landschaft und die Haltung des Gesundheitsministers boten wenig Spielraum für grundlegende Veränderungen. Ihre Fähigkeit, die Lauterbach‘sche Apothekenreform zu verhindern, zeigt hingegen, dass sie durchaus strategisches Geschick bewies.
Overwienings größte Leistung war jedoch ihr Einsatz für den Zusammenhalt der Apothekerschaft. Der Protesttag im Juni 2023 bleibt ein historisches Ereignis, das den Berufsstand einte und ein starkes Signal an die Öffentlichkeit und die Politik sandte. Diese Einheit wird nach ihrer Abwahl nur schwer aufrechtzuerhalten sein.
Die Apothekerschaft steht vor entscheidenden Fragen: Wer kann die Lücke füllen, die Overwiening hinterlässt? Welche Strategie wird notwendig sein, um die Herausforderungen der nächsten Jahre zu bewältigen? Die Antwort darauf wird nicht nur die Zukunft der ABDA bestimmen, sondern auch den Fortbestand vieler Apotheken in Deutschland.
Overwienings Abwahl hinterlässt ein ambivalentes Bild: eine Präsidentin, die unbestreitbare Erfolge erzielte, aber auch an den eigenen Ansprüchen und an den Erwartungen ihres Berufsstandes scheiterte. Der kommende Generationswechsel in der Führung der ABDA birgt Risiken, aber auch Chancen. Eines ist jedoch klar: Die Herausforderungen, die Overwiening hinterlässt, werden nicht weniger – und die Apothekerschaft muss geschlossen bleiben, um diese zu bewältigen.
Von Engin Günder, Fachjournalist