Die Diskussion über Krankmeldungen und Arbeitsausfälle hat in Deutschland eine neue Dimension erreicht. Der Wirtschaftswissenschaftler und Sozialexperte Bernd Raffelhüschen schlägt vor, die Lohnfortzahlung bei Krankheit für die ersten drei Tage auszusetzen. Ziel sei es, sogenannte "blaue Tage" zu reduzieren und Arbeitnehmer dazu anzuregen, verantwortungsvoller mit ihrem Krankheitsstatus umzugehen. Doch dieser Vorschlag trifft auf erheblichen Widerstand.
Raffelhüschen argumentiert, dass die aktuelle Regelung in Deutschland, die ab dem ersten Krankheitstag eine Lohnfortzahlung vorsieht, Anreize für unberechtigte Fehlzeiten schafft. „In Ländern wie Schweden oder Dänemark gibt es Karenztage, und das hat sich bewährt“, erklärte er in einem Interview. Die Einführung von bis zu drei Karenztagen könne die Produktivität steigern und die Kosten für Arbeitgeber senken.
Gewerkschaften und Sozialverbände reagieren empört auf diese Forderung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnt vor einer Zunahme des sogenannten „Präsentismus“, bei dem Beschäftigte trotz Krankheit zur Arbeit erscheinen. „Dies gefährdet nicht nur die Gesundheit der Arbeitnehmer, sondern führt langfristig auch zu höheren Kosten für die Unternehmen, wenn Krankheiten verschleppt werden“, so die stellvertretende DGB-Vorsitzende Anja Piel.
Auch Ärzteverbände schließen sich der Kritik an. Die Angst, finanziell benachteiligt zu werden, könnte dazu führen, dass infektiöse oder chronisch erkrankte Personen ihre Erkrankungen nicht auskurieren. Der Verband der Betriebsärzte mahnt: „Karenztage könnten die Arbeitsfähigkeit vieler Beschäftigter gefährden und die Verbreitung von Krankheiten im Betrieb fördern.“
Unterstützung erhält Raffelhüschen hingegen von einigen Arbeitgeberverbänden. Diese argumentieren, dass Karenztage ein wirksames Instrument seien, um Missbrauch einzudämmen und den Fokus auf die Leistungsfähigkeit der Belegschaft zu lenken. Allerdings räumen auch sie ein, dass es Ausnahmen für besonders belastete Berufsgruppen geben müsse.
Die Debatte zeigt eine grundlegende Herausforderung in der Balance zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen. Während die einen auf Kostenersparnis und Effizienz pochen, mahnen die anderen an, die soziale Absicherung nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Kommentar:
Die Forderung nach Karenztagen in Deutschland ist nicht nur eine ökonomische, sondern vor allem eine soziale Frage. Raffelhüschen will den Missbrauch von Krankheitstagen eindämmen, doch die Folgen einer solchen Regelung könnten das Gegenteil bewirken: mehr Präsentismus, höhere Gesundheitsrisiken und langfristige wirtschaftliche Schäden.
Es ist richtig, den Fokus auf eine effizientere Arbeitsorganisation zu legen, doch die Lösung kann nicht darin bestehen, Kranken die finanzielle Grundlage zu entziehen. Besonders in Berufen mit hoher körperlicher oder psychischer Belastung ist der Vorschlag gefährlich. Die Corona-Pandemie hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig es ist, zu Hause zu bleiben, wenn man krank ist – auch, um andere zu schützen.
Statt Karenztage einzuführen, sollten präventive Maßnahmen wie betriebliches Gesundheitsmanagement und flexible Arbeitsmodelle gestärkt werden. Diese fördern nicht nur die Gesundheit, sondern steigern auch die Produktivität nachhaltig.
Ein gesellschaftlicher Konsens ist gefragt, der Arbeitnehmern Vertrauen entgegenbringt, ohne die berechtigten Interessen der Arbeitgeber zu ignorieren. Die Diskussion zeigt, wie fragil das Gleichgewicht zwischen Wirtschaftlichkeit und sozialer Verantwortung ist. Ein so radikaler Eingriff wie Karenztage riskiert, mehr zu zerstören als zu verbessern.
Von Engin Günder, Fachjournalist