Die Zahl der an Essstörungen leidenden Jugendlichen ist in den vergangenen Jahren weltweit stark angestiegen. Experten warnen vor den langfristigen Auswirkungen dieser psychischen Erkrankungen, die häufig in der sensiblen Entwicklungsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter auftreten. Magersucht (Anorexia nervosa), Bulimie (Bulimia nervosa) und Adipositas zählen zu den häufigsten Formen und betreffen vor allem junge Frauen, aber zunehmend auch Männer. Aktuelle Studien zeigen, dass bis zu 8,4 Prozent der Frauen und 2,2 Prozent der Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren unter einer Essstörung leiden. Diese alarmierenden Zahlen sind Ausdruck eines komplexen Zusammenspiels aus individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Faktoren.
Die Ursachen für die Entstehung von Essstörungen sind vielfältig und komplex. Psychosomatische Experten wie Professor Dr. Stephan Zipfel von der Universitätsklinik Tübingen weisen darauf hin, dass das Streben nach Kontrolle über das eigene Leben eine zentrale Rolle spielt. Jugendliche befinden sich in einer Phase großer Unsicherheit, in der sie oft das Gefühl haben, dass ihnen das Leben entgleitet. Die Kontrolle über das eigene Essverhalten wird dabei zu einer vermeintlichen Möglichkeit, dieses Gefühl wiederzuerlangen. Essstörungen entwickeln sich häufig in einem schleichenden Prozess und sind tief mit dem Selbstwertgefühl der Betroffenen verknüpft. Das gestörte Essverhalten wird zu einem festen Bestandteil der Persönlichkeit, was die Behandlung zusätzlich erschwert.
Die Corona-Pandemie hat die Situation weiter verschärft. Durch Lockdowns, soziale Isolation und den Wegfall persönlicher Kontakte zu Freunden, Lehrkräften und Betreuern wurden viele Jugendliche in ihrer psychischen Gesundheit zusätzlich belastet. Gerade jene, die bereits zuvor anfällig für psychische Erkrankungen waren, entwickelten verstärkt Essstörungen. Professor Zipfel beschreibt diese Situation als besonders toxisch, da den Betroffenen oft die nötige Unterstützung fehlte, um frühzeitig Hilfe zu suchen. Beratungs- und Therapieangebote wurden stark eingeschränkt, und viele Betroffene zogen sich vollständig in sich selbst zurück.
Essstörungen sind nicht nur eine psychische, sondern auch eine ernsthafte physische Bedrohung. Magersucht kann zu lebensbedrohlichem Untergewicht, Herz-Kreislauf-Problemen und schweren Mangelerscheinungen führen. Bulimie verursacht durch häufiges Erbrechen Schädigungen an Zähnen, Speiseröhre und Verdauungsorganen. Adipositas birgt ein hohes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und andere chronische Krankheiten. Trotz der Schwere der Erkrankungen gibt es Hoffnung: Essstörungen sind behandelbar, auch wenn der Weg zur Heilung lang und oft steinig ist. Ein individuell angepasster Behandlungsplan, der psychotherapeutische Maßnahmen mit medizinischer Unterstützung kombiniert, kann den Betroffenen helfen, ihre Essstörung zu überwinden.
Für die Angehörigen von Betroffenen ist es wichtig, sensibel mit der Situation umzugehen. Vorwürfe oder Zwangsmaßnahmen führen in der Regel zu einer Verschlechterung des Zustands. Stattdessen sollten Eltern, Freunde und Vertraute Unterstützung und Verständnis zeigen und die Betroffenen ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Beratungsangebote wie die der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bieten niederschwellige Anlaufstellen, bei denen Betroffene und ihr Umfeld erste Hilfe erhalten können. Es ist entscheidend, dass Essstörungen frühzeitig erkannt und behandelt werden, um langfristige gesundheitliche Schäden zu vermeiden.
Kommentar:
Die steigende Zahl von Essstörungen bei Jugendlichen ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft. Die Ursachen liegen tief in unserer modernen Welt verwurzelt: Ein immer größerer Leistungsdruck, unrealistische Schönheitsideale in den sozialen Medien und das Fehlen emotionaler Sicherheit in einer sich stetig verändernden Gesellschaft. Besonders junge Menschen, die sich noch in der Selbstfindungsphase befinden, sind anfällig für diese Einflüsse. Essstörungen sind der Versuch, Kontrolle über eine scheinbar unkontrollierbare Welt zu erlangen. Doch die Kontrolle, die sie suchen, führt oft in eine gesundheitliche Abwärtsspirale.
Es ist dringend erforderlich, dass wir als Gesellschaft unsere Verantwortung für die psychische Gesundheit von Jugendlichen ernst nehmen. Eltern, Schulen, soziale Einrichtungen und die Politik müssen enger zusammenarbeiten, um präventive Maßnahmen zu ergreifen und den Zugang zu psychologischer Unterstützung zu verbessern. Essstörungen dürfen nicht länger als individuelles Problem abgetan werden, sondern müssen als Symptom tieferliegender gesellschaftlicher Missstände verstanden werden. Nur wenn wir uns diesem Problem gemeinsam stellen, können wir die Zahl der Betroffenen langfristig senken und den Jugendlichen die notwendige Unterstützung bieten, um gesund und selbstbewusst in die Zukunft zu gehen.
Von Engin Günder, Fachjournalist