In den Archiven und Sammlungen zahlreicher Museen und Universitäten weltweit lagern unzählige menschliche Überreste – Schädel, Knochen, Mumien, Haare und Organe. Diese sogenannten Human Remains sind nicht nur wertvolle Forschungsobjekte, sondern auch ein kulturelles Erbe, das viele Gemeinschaften mit ihrer Identität und Geschichte verbinden. In Deutschland und Europa hat das Thema in den letzten Jahren an Brisanz gewonnen, insbesondere angesichts der kolonialen Vergangenheit vieler dieser Sammlungen und wachsender Rückgabeforderungen indigener Gemeinschaften aus ehemaligen Kolonialgebieten.
Erst im Oktober 2024 beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestags ein Budget von 250.000 Euro für die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle zur Rückgabe von Human Remains. Diese soll Museen und universitären Sammlungen helfen, den Umgang mit menschlichen Überresten rechtlich und moralisch zu klären. Ziel ist es, transparente Prozesse zu schaffen, die den Ansprüchen der Herkunftsgesellschaften ebenso gerecht werden wie den wissenschaftlichen Interessen.
Die Herausforderung dabei ist enorm, denn es prallen unterschiedliche kulturelle, ethische und rechtliche Vorstellungen aufeinander. In Europa gelten menschliche Überreste, die älter als 100 Jahre sind, juristisch als Gegenstände oder Sachen. Das bedeutet, dass sie gehandelt und besessen werden dürfen. Diese Sichtweise widerspricht jedoch den Vorstellungen vieler indigener Gemeinschaften, für die die Aufbewahrung solcher Überreste außerhalb traditioneller Begräbnisstätten oft ein massiver Verstoß gegen spirituelle und kulturelle Prinzipien ist.
Der Deutsche Museumsbund hat Leitlinien entwickelt, um Museen und Universitäten bei diesem sensiblen Thema Orientierung zu geben. Diese Empfehlungen umfassen mehrere Kernpunkte: den respektvollen Umgang mit den Überresten, die Einhaltung ethischer Standards bei der Lagerung und Präsentation sowie die Einbeziehung der Herkunftsgesellschaften bei wissenschaftlichen Untersuchungen oder öffentlichen Ausstellungen. Auch die transparente Dokumentation und eine angemessene Kommunikation mit der Öffentlichkeit gehören dazu.
Museumsmitarbeitende sollen zudem gezielt geschult werden, um ein tiefgreifendes Verständnis für die kulturellen und moralischen Dimensionen des Umgangs mit Human Remains zu entwickeln. Besonders betont wird, dass Rückgaben nicht nur eine Frage von rechtlichen Verpflichtungen sind, sondern auch von moralischer Verantwortung und kultureller Sensibilität.
In Ländern wie den USA, Kanada, Australien und Neuseeland, wo indigene Völker verstärkt ihre Rechte einfordern, haben Rückgabeforderungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Diese Entwicklung wirft auch für deutsche Museen eine wichtige Frage auf: Wie kann das koloniale Erbe kritisch aufgearbeitet werden, ohne dass wissenschaftliche Forschung behindert wird? Die Debatte ist nicht neu, hat jedoch an Dynamik gewonnen, da internationale Konventionen und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für postkoloniale Gerechtigkeit zunehmen.
Ein besonders komplexes Spannungsfeld zeigt sich bei der Frage, welche wissenschaftlichen Untersuchungen weiterhin zulässig sind und ob bestimmte Überreste zurückgegeben werden müssen. In Fällen, in denen klare Beweise für eine unrechtmäßige Aneignung vorliegen, wie dies bei vielen Überresten aus kolonialen Kontexten der Fall ist, scheint die Rückgabe unumgänglich. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie mit Überresten umzugehen ist, deren Herkunft nicht eindeutig geklärt werden kann.
Die Einführung der zentralen Anlaufstelle könnte den notwendigen Rahmen schaffen, um diese sensiblen Fragen systematisch anzugehen. Doch bleibt abzuwarten, wie diese Initiative in der Praxis umgesetzt wird und ob sie dazu beiträgt, das Vertrauen der Herkunftsgesellschaften in deutsche Institutionen wiederherzustellen.
Kommentar: Ein moralischer Wendepunkt mit Herausforderungen
Die Rückgabe menschlicher Überreste aus Museumssammlungen ist längst überfällig – nicht nur aus einer rechtlichen Perspektive, sondern vor allem aus moralischer und kultureller Sicht. Viele dieser Überreste wurden während der Kolonialzeit unter fragwürdigen Umständen in den Westen gebracht, häufig ohne Einwilligung der betroffenen Gemeinschaften. Sie repräsentieren nicht nur wissenschaftliche Objekte, sondern sind auch Zeugnisse historischer Ungerechtigkeiten, die bis heute nachwirken.
Der Beschluss des Bundestags, eine zentrale Anlaufstelle für die Rückgabe zu schaffen, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Doch reicht er aus? Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass viele Museen mit der Umsetzung von Rückgaben überfordert sind. Die oft fehlenden Dokumentationen, die Unsicherheiten über die rechtliche Situation und die finanziellen Kosten stellen enorme Hürden dar. Diese Probleme machen deutlich, dass die Leitlinien des Deutschen Museumsbunds ein wichtiges, aber keineswegs ausreichendes Instrument sind.
Wissenschaftliche Forschung und kulturelle Sensibilität stehen dabei nicht zwangsläufig im Widerspruch zueinander. Vielmehr könnten Rückgabeprozesse als Chance gesehen werden, eine engere Zusammenarbeit zwischen Museen und Herkunftsgesellschaften zu fördern. Indem die betroffenen Gemeinschaften aktiv in die Entscheidungen eingebunden werden, könnten neue Formen der Forschung entstehen, die sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch kulturelle Belange berücksichtigen.
Gleichzeitig müssen Museen den Mut aufbringen, ihre eigene koloniale Vergangenheit kritisch zu hinterfragen. Die Bereitschaft, Verantwortung für historisches Unrecht zu übernehmen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke und Integrität. Die Rückgabe von Human Remains bietet die Möglichkeit, diese Verantwortung in die Tat umzusetzen.
Die Debatte zeigt jedoch auch, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Nicht alle Überreste lassen sich eindeutig einer Herkunftsgesellschaft zuordnen, und nicht jede Gemeinschaft hat die Kapazitäten, die Überreste würdevoll zurückzuführen. Hier bedarf es flexibler Ansätze, die auf den Dialog und die individuelle Betrachtung jedes Falls setzen.
Der Umgang mit Human Remains ist ein Testfall für die Bereitschaft westlicher Institutionen, ihre Rolle in einer globalisierten und postkolonialen Welt neu zu definieren. Er bietet die Chance, nicht nur alte Wunden zu heilen, sondern auch Brücken für eine gemeinsame Zukunft zu bauen. Diese Verantwortung anzunehmen, ist nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch ein Signal für den respektvollen Umgang mit den vielfältigen Kulturen dieser Welt.
Von Engin Günder, Fachjournalist