Individuelle Gesundheitsleistungen (IGEL) sind in Deutschlands Arztpraxen fest etabliert, doch ihre medizinische Wirksamkeit steht zunehmend in der Kritik. Laut einem aktuellen Report des Medizinischen Dienstes Bund geben gesetzlich Versicherte jährlich weit über eine Milliarde Euro für solche Selbstzahler-Angebote aus. Der Report zeigt, dass viele dieser Leistungen medizinisch fragwürdig sind und deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt ist, während Patienten oft nicht ausreichend über Risiken und Alternativen informiert werden.
Im Fokus des Reports stehen häufig angebotene Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen wie die Augeninnendruckmessung zur Glaukomfrüherkennung oder der Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsprävention. Auch alternative Behandlungen, darunter Akupunktur oder Vitamininfusionen, werden häufig als IGEL-Leistungen angeboten. Die Kosten variieren dabei stark: Sie reichen von 20 Euro für kleine Tests bis zu mehreren Hundert Euro für umfangreichere Verfahren.
Ein Kernproblem ist die fehlende Transparenz. Patienten vertrauen auf die Empfehlungen ihrer Ärzte, die diese Leistungen oft als sinnvolle Ergänzung zur regulären Versorgung darstellen. Doch der Report des Medizinischen Dienstes stellt fest, dass nur wenige IGEL-Leistungen evidenzbasiert sind. „Die Nachfrage zeigt, dass Patienten ein großes Bedürfnis nach Vorsorge und Gesundheit haben. Doch dieses Bedürfnis wird nicht immer seriös bedient“, kritisiert Peter Pick, Vorstand des Medizinischen Dienstes Bund.
Die Kritik kommt nicht nur von Seiten der Patientenorganisationen. Verbraucherschützer und wissenschaftliche Gesellschaften bemängeln ebenfalls, dass viele IGEL-Leistungen eher wirtschaftliche Interessen der Anbieter bedienen als einen echten gesundheitlichen Mehrwert bieten. Der Berufsverband der Allgemeinmediziner fordert daher, Ärzte stärker in die Pflicht zu nehmen, Nutzen und Risiken solcher Leistungen klar zu kommunizieren.
Auch die gesetzlichen Krankenkassen sehen Handlungsbedarf. „Die Summen, die für IGEL-Leistungen ausgegeben werden, könnten besser in die Optimierung der Regelversorgung fließen“, heißt es aus dem GKV-Spitzenverband. Es sei wichtig, eine klare Abgrenzung zwischen notwendiger medizinischer Versorgung und optionalen Leistungen zu schaffen, um die finanziellen Ressourcen der Patienten zu schützen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist das Verkaufsgespräch, das in vielen Praxen den Eindruck eines Marktgeschehens erweckt. Patientenorganisationen wie der Sozialverband VdK raten Betroffenen, vor der Inanspruchnahme solcher Leistungen eine unabhängige Beratung einzuholen. Die IGEL-Liste des Medizinischen Dienstes Bund bietet dabei eine wichtige Orientierung, indem sie die medizinische Evidenz und die Risiken einzelner Angebote bewertet.
Kommentar:
Die Ergebnisse des Reports des Medizinischen Dienstes Bund sind ein Weckruf – für Patienten, Ärzte und die Gesundheitspolitik gleichermaßen. Die Zahlen belegen, dass IGEL-Leistungen für viele Patienten zu einer finanziellen Belastung werden, ohne dass ihnen ein klarer medizinischer Mehrwert geboten wird. Mehr als eine Milliarde Euro jährlich für weitgehend nicht evidenzbasierte Leistungen ist eine Summe, die Fragen aufwirft: Wie ist es möglich, dass solche Angebote weiterhin fast unreguliert auf dem Gesundheitsmarkt existieren?
Für Ärzte bedeuten IGEL-Leistungen ein lukratives Zusatzgeschäft, das den finanziellen Druck im Praxisbetrieb mindern kann. Doch dieser finanzielle Anreiz bringt eine schleichende Erosion des Vertrauens mit sich. Der Arztbesuch sollte eine neutrale und patientenzentrierte Beratung bieten – keine Verkaufsveranstaltung. Der Eindruck, dass medizinische Empfehlungen von wirtschaftlichen Interessen getrieben sind, schadet dem Ansehen der Ärzteschaft und belastet das Arzt-Patient-Verhältnis.
Ein weiteres Problem ist die mangelnde Aufklärung der Patienten. Viele fühlen sich unsicher, wenn sie vor Ort zwischen „Chance auf mehr Gesundheit“ und „teurem Risiko“ abwägen sollen. Oft fehlen detaillierte Informationen, die die Entscheidungsfindung unterstützen könnten. Hier liegt ein eklatantes Versäumnis im Gesundheitssystem, das bisher keine verbindlichen Regelungen für die Transparenz und Aufklärung bei IGEL-Leistungen geschaffen hat.
Die Lösung liegt nicht allein in einem Verbot solcher Leistungen – sie können in Einzelfällen durchaus sinnvoll sein. Doch ihre wissenschaftliche Grundlage muss geprüft und klar kommuniziert werden. Ärzte sollten verpflichtet werden, Nutzen und Risiken im Kontext der individuellen Patientensituation zu erläutern, und unabhängige Beratungsangebote müssen gestärkt werden.
Auch die Politik ist gefordert. Es braucht verbindliche Vorgaben, um die Vermarktung medizinisch fragwürdiger IGEL-Leistungen einzudämmen. Darüber hinaus sollte geprüft werden, welche dieser Leistungen möglicherweise in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen werden könnten, sofern sie nachweislich einen echten gesundheitlichen Nutzen bieten.
Für Patienten gilt: Skepsis ist angebracht. Bevor IGEL-Leistungen in Anspruch genommen werden, sollten sie unabhängige Informationsquellen wie die IGEL-Liste nutzen oder eine zweite Meinung einholen. Denn letztlich geht es um ihre Gesundheit – und um ihr Geld.