In einem prägnanten Fall, der die Rechtsprechung im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung maßgeblich beeinflussen könnte, hat der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 27. November 2024 neue Maßstäbe zur Definition der Arbeitsunfähigkeit gesetzt. Die Entscheidung dreht sich um einen Piloten, der nach einer medizinisch diagnostizierten Beinvenenthrombose trotz körperlicher Genesung nicht arbeiten konnte, da ihm die behördliche Flugtauglichkeitsbescheinigung fehlte. Diese Situation brachte ihn in eine rechtliche Grauzone zwischen medizinischer Genesung und beruflicher Arbeitsfähigkeit.
Der Pilot, ein Flugkapitän, erlitt im Januar 2017 eine Thrombose, die ihn zwang, seine berufliche Tätigkeit vorübergehend einzustellen. Nach einer intensiven Behandlung und medizinischen Erholung stand der Kapitän bereit, wieder zu fliegen. Doch ohne die erforderliche behördliche Bescheinigung des Luftfahrt-Bundesamtes blieb ihm der Zugang zum Cockpit verwehrt. Sein Versicherer, der bis Oktober 2017 Krankentagegeld gezahlt hatte, stellte die Zahlungen ein, mit der Begründung, der Kapitän sei nicht mehr "medizinisch" arbeitsunfähig. Daraufhin zog der Pilot vor Gericht, um die Fortzahlung des Krankentagegeldes bis zum offiziellen Wiedererlangen seiner Flugtauglichkeit zu erreichen.
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hatte zuvor entschieden, dass die Versicherungspolice des Klägers auch die Zeitspanne zwischen der medizinischen Genesung und der behördlichen Wiedererteilung der Fluglizenz abdecken muss. Diese Auffassung wurde vom BGH bestätigt, der klarstellte, dass die berufliche Fluguntauglichkeit als Form der Arbeitsunfähigkeit zu betrachten ist, solange keine gültige behördliche Bescheinigung vorliegt. Die Entscheidung betont, dass in spezialisierten Berufen, in denen behördliche Zertifikate eine zentrale Rolle spielen, die Versicherungsbedingungen entsprechend adaptiert werden müssen, um den berufsspezifischen Risiken gerecht zu werden.
Kommentar:
Das Urteil des Bundesgerichtshofs setzt nicht nur einen juristischen Präzedenzfall, sondern öffnet auch eine Diskussion über die Notwendigkeit einer adaptiven Auslegung von Versicherungsbedingungen in Abhängigkeit von beruflichen Spezifika. In Berufen, bei denen die Ausübung der beruflichen Tätigkeit stark von behördlichen Genehmigungen abhängig ist, wie bei Piloten, Ärzten oder anderen regulierten Berufsgruppen, ergibt sich eine besondere Schutzbedürftigkeit. Das BGH-Urteil unterstreicht die Bedeutung dieser speziellen Arbeitsbedingungen und fordert eine präzisere Betrachtung der Versicherungsverträge, um den Schutz der Versicherten zu gewährleisten.
Diese Entscheidung könnte weitreichende Folgen für die Versicherungsbranche haben, indem sie die Unternehmen zwingt, ihre Policen und deren Auslegung zu überdenken. Es stellt auch einen wichtigen Fortschritt für die Rechte der Arbeitnehmer dar, insbesondere in hochregulierten Berufsfeldern, und könnte ähnliche Fälle in anderen Sektoren inspirieren. Durch dieses Urteil wird die Notwendigkeit betont, dass die Definition der Arbeitsfähigkeit flexibel genug sein muss, um den realen Arbeitsbedingungen und behördlichen Anforderungen gerecht zu werden. Das Urteil dient somit nicht nur dem Schutz des Einzelnen, sondern auch der Anpassung des Rechtssystems an die sich wandelnden Arbeitswelten des 21. Jahrhunderts.
Von Engin Günder, Fachjournalist