Deutschland sieht sich im Jahr 2024 mit einer alarmierenden Entwicklung konfrontiert: Die Zahl der Keuchhustenfälle hat ein Rekordniveau erreicht. Bis zum 21. November wurden nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) rund 22.500 laborbestätigte Infektionen gemeldet. Diese Zahl übersteigt deutlich die Werte der letzten zehn Jahre und liegt weit über dem bisherigen Höchststand von 16.829 Fällen im Jahr 2017. Im Vorjahr waren es lediglich 3.430 gemeldete Fälle. Die diesjährigen Zahlen markieren eine außergewöhnliche Ausnahmesituation, die weit über die üblicherweise beobachteten Schwankungen hinausgeht.
Besonders betroffen sind Jugendliche im Alter zwischen 12 und 16 Jahren. Kinderärzte berichten von einer hohen Anzahl an Patienten, die unter wochenlang anhaltendem, starkem Husten leiden. Dieser beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität, sondern führt auch zu einer erheblichen Belastung der Kinderarztpraxen und Kliniken. Doch auch Erwachsene, die etwa 60 Prozent der Fälle ausmachen, sind betroffen. Für sie kann eine Keuchhusteninfektion insbesondere bei bestehenden Vorerkrankungen wie chronischer Bronchitis oder Lungenemphysem zu erheblichen Komplikationen führen. Besonders gefährdet sind jedoch Säuglinge unter sechs Monaten. In dieser Altersgruppe treten die meisten Krankenhausaufenthalte auf, und die wenigen Todesfälle, die jährlich gemeldet werden, betreffen fast ausschließlich ungeimpfte Säuglinge. Bislang starben in diesem Jahr vier Menschen an den Folgen einer Keuchhusteninfektion, darunter überwiegend Säuglinge und Menschen mit schweren Vorerkrankungen.
Fachleute wie Dr. Leif Erik Sander von der Berliner Charité sehen die Ursachen für den Anstieg in sogenannten Nachholeffekten nach der Corona-Pandemie. Während der Pandemie verhinderten Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen die Verbreitung des Keuchhustenerregers. Dadurch nahm die natürliche Immunität in der Bevölkerung ab, was nun zu einem erhöhten Infektionsrisiko führt. Zudem könnte die verstärkte Diagnostik zu einem Anstieg der gemeldeten Zahlen beigetragen haben. Doch das Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auch international, etwa in den USA, wurde eine signifikante Zunahme der Keuchhustenfälle registriert. Laut der Gesundheitsbehörde CDC wurden dort bis Anfang November rund 23.500 Fälle gemeldet – ein Anstieg um das Fünffache im Vergleich zum Vorjahr.
Keuchhusten beginnt oft mit unspezifischen Erkältungssymptomen wie Schnupfen und leichtem Husten, die sich zu einem langanhaltenden, quälenden Reizhusten entwickeln können. Dieser kann bei Säuglingen und gefährdeten Personen zu schweren Komplikationen wie Atemaussetzern oder Krämpfen führen. Auch bei Erwachsenen sind Langzeitfolgen wie eine Verschlechterung der Lungenfunktion möglich. Trotz dieser Risiken wird die Krankheit häufig unterschätzt.
Die wirksamste Maßnahme bleibt die Impfung. In Deutschland wird Säuglingen ab dem zweiten Lebensmonat eine Grundimmunisierung empfohlen. Auffrischungsimpfungen im Kindes- und Jugendalter sowie bei Erwachsenen sind essenziell, um einen langanhaltenden Schutz zu gewährleisten. Die Ständige Impfkommission (STIKO) rät zudem Schwangeren zur Impfung, da sie durch einen sogenannten Nestschutz auch ihre Neugeborenen schützen können. Allerdings wird dieser Rat noch zu selten umgesetzt. Während die Impfquote bei Schulanfängern mit 93 Prozent vergleichsweise hoch ist, bleibt die Akzeptanz der Auffrischungsimpfung bei Erwachsenen hinter den Erwartungen zurück.
Die aktuellen Fallzahlen verdeutlichen die Notwendigkeit einer umfassenden Impfstrategie und einer stärkeren Sensibilisierung der Bevölkerung. Gesundheitsexperten fordern daher gezielte Impfkampagnen und eine verbesserte Aufklärung, insbesondere bei Schwangeren und Erwachsenen. Nur durch einen konsequenten Impfschutz lassen sich ähnliche Ausbrüche in Zukunft verhindern.
Kommentar:
Die Rekordzahl der Keuchhustenfälle im Jahr 2024 ist ein eindringliches Alarmsignal, das weitreichende Fragen zur Impfstrategie, Gesundheitsaufklärung und gesellschaftlichen Verantwortung aufwirft. Die Zunahme der Fälle zeigt deutlich, wie fragil der Schutz vor vermeidbaren Infektionskrankheiten ist, wenn präventive Maßnahmen nicht konsequent umgesetzt werden.
Ein entscheidender Faktor ist die Nachlässigkeit bei der Auffrischung von Impfungen im Erwachsenenalter. Während die Grundimmunisierung bei Kindern relativ gut etabliert ist, fehlt es bei Erwachsenen oft an Bewusstsein für die Notwendigkeit eines regelmäßigen Impfschutzes. Hier liegt eine der größten Herausforderungen für die Gesundheitspolitik: Die Förderung einer lebenslangen Impfbereitschaft muss in den Fokus rücken. Besonders Schwangere könnten durch eine Impfung nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Neugeborenen effektiv schützen – ein Potenzial, das bislang viel zu wenig genutzt wird.
Die gesundheitspolitische Verantwortung beschränkt sich jedoch nicht auf die Bevölkerung. Der Staat hat eine zentrale Rolle bei der Förderung und Finanzierung von Impfkampagnen sowie bei der Bereitstellung einfacher Zugänge zu Impfungen. Die hohen Fallzahlen bei Jugendlichen und Erwachsenen zeigen, dass die bisherigen Maßnahmen unzureichend sind. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass ein Großteil der Todesfälle weiterhin Säuglinge betrifft – eine Altersgruppe, die am stärksten auf den Impfschutz der Gemeinschaft angewiesen ist.
Die Rekordzahlen in Deutschland und weltweit verdeutlichen auch, wie eng globalisierte Gesundheitssysteme miteinander verflochten sind. Ein effektiver Schutz vor Keuchhusten kann nicht isoliert betrachtet werden. Der Austausch von Erkenntnissen, die Abstimmung von Impfstrategien und die Stärkung internationaler Kooperationen sind essenziell, um grenzüberschreitende Ausbrüche zu kontrollieren.
Keuchhusten ist kein Relikt aus vergangenen Zeiten, sondern eine ernstzunehmende Infektionskrankheit, deren Risiken in der öffentlichen Wahrnehmung unterschätzt werden. Die aktuelle Situation sollte daher als Mahnung dienen, präventive Maßnahmen zu intensivieren. Es ist eine gemeinsame Aufgabe von Gesundheitspolitik, Ärzteschaft und Bevölkerung, den Schutz vor vermeidbaren Krankheiten zu stärken – nicht nur für heute, sondern auch für kommende Generationen.
Von Engin Günder, Fachjournalist