In dem vorliegenden Fall wurde ein Fußgänger, der außerhalb eines geschützten Bereiches eine breite Brücke überqueren wollte, von einem Auto auf der Gegenfahrbahn von rechts erfasst. Der Fußgänger räumte ein, dass er nicht ganz unschuldig an dem Unfall war, behauptete jedoch, dass der Fahrer des Autos ihn bei ausreichender Aufmerksamkeit hätte wahrnehmen und rechtzeitig bremsen können. Er argumentierte daher, dass dem Autofahrer ein hälftiges Mitverschulden zuzuschreiben sei.
Das Berliner Kammergericht sah dies jedoch anders. Es urteilte, dass der Fußgänger den Unfall aufgrund grober Fahrlässigkeit und Missachtung der für ihn geltenden Sorgfaltspflichten aus § 25 Absatz 3 der Straßenverkehrsordnung verursacht habe. Das Kammergericht betonte, dass ein Fahrer nicht damit rechnen müsse, dass ein Fußgänger eine mehrspurige Straße trotz herannahender Fahrzeuge über die Mittellinie hinaus weiter überquert. Ein solches Verhalten sei unbedacht und unvorsichtig.
Gemäß dieser Argumentation tritt bei einer Kollision zwischen einem sorglos die Fahrbahn überquerenden Fußgänger und einem Autofahrer die Haftung aus der Betriebsgefahr des Wagens hinter dem groben Eigenverschulden des Fußgängers zurück. Die Klage des Fußgängers wurde dementsprechend als unbegründet abgewiesen.
Der Bundesgerichtshof (BGH) widersprach jedoch teilweise der Entscheidung des Kammergerichts. Der BGH hob das Urteil auf und wies den Fall zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurück. Nach Ansicht des BGH muss ein Autofahrer nicht zwangsläufig damit rechnen, dass ein erwachsener Fußgänger versucht, kurz vor seinem Fahrzeug die Fahrbahn zu betreten. Ebenso muss der Fahrer nicht davon ausgehen, dass ein Fußgänger, der vor oder in der Mitte der Straße anhält, unerwartet weiterläuft.
Diese Einschätzung gilt allerdings nur, wenn der Fahrer nach einer verständigen Würdigung aller Umstände keinen Anlass hat, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln.
Im vorliegenden Fall hätten jedoch möglicherweise Zweifel bestanden, die der Autofahrer berücksichtigen müssen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er das Verhalten des Fußgängers bei ordnungsgemäßer Beobachtung der gesamten Straßenfläche ab dem Betreten der Fahrbahn hätte wahrnehmen können. Daher hätte er nicht darauf vertrauen dürfen, dass der Fußgänger ihn passieren lassen würde, sondern seine Fahrweise entsprechend anpassen müssen.
Ob dem Autofahrer letztendlich ein Mitverschulden zuzurechnen ist, bleibt der Vorinstanz zur Klärung überlassen.
Diese Entscheidung des BGH verdeutlicht, dass es in solchen Fällen auf die genauen Umstände und das verkehrsgerechte Verhalten sowohl des Fußgängers als auch des Autofahrers ankommt. Autofahrer sollten nicht pauschal darauf vertrauen, dass Fußgänger ihnen stets den Vortritt lassen, sondern ihre Fahrweise situationsabhängig anpassen.
von Oliver Ponleroy, Fachjournalist