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Neue Wege in der Adipositas-Therapie

Leitlinie empfiehlt digitale Tools, moderne Medikamente und weniger Stigmatisierung

(PresseBox) (Karlsruhe, )
Die neue Adipositas-Leitlinie bringt frischen Wind in die Therapie und Prävention von Übergewicht: Neben etablierten Ansätzen zur Ernährung und Bewegung werden erstmals digitale Gesundheitsanwendungen wie Apps und Wearables empfohlen, um Betroffene im Alltag zu unterstützen. Ein zentrales Thema ist die Bekämpfung der Stigmatisierung, der viele adipöse Menschen sowohl in der Gesellschaft als auch im Gesundheitssystem ausgesetzt sind. Mit moderner Pharmakotherapie, darunter innovative Wirkstoffe wie GLP-1-Agonisten und Tirzepatid, werden langfristige Erfolge zur Gewichtsreduktion greifbarer – jedoch nur in Kombination mit multimodalen Therapieansätzen. Auch zeigt die Leitlinie klare Grenzen auf: Nahrungsergänzungsmittel und homöopathische Präparate ohne wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis sollen keine Rolle mehr in der Adipositas-Behandlung spielen.

Zehn Jahre nach der letzten Fassung wurde die Leitlinie zur Therapie und Prävention von Adipositas in Deutschland aktualisiert. Diese Überarbeitung trägt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung und integriert wichtige neue Aspekte wie digitale Gesundheitsanwendungen, die Bekämpfung von Stigmatisierung und die Verfügbarkeit moderner Medikamente. Adipositas betrifft heute rund ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland, Tendenz steigend – mit dieser Leitlinie soll die Therapie dieser weit verbreiteten Krankheit wirksamer und individueller gestaltet werden.

Die Leitlinie hält am Body-Mass-Index (BMI) als Basis für die Klassifikation von Übergewicht und Adipositas fest. Personen mit einem BMI von 25 kg/m² gelten als übergewichtig, ab einem BMI von 30 kg/m² als adipös. Ab dieser Schwelle erfordert die Adipositas, wie die Leitlinie festhält, häufig eine umfassendere medizinische und psychologische Unterstützung. Der multidisziplinäre Ansatz steht dabei im Mittelpunkt: Therapieangebote, die Ernährung, Bewegung und psychologische Beratung umfassen, gelten als grundlegender Bestandteil der Behandlung.

Im Vergleich zur Vorgängerversion ist der Abschnitt zur Ernährungstherapie erheblich detaillierter. Ziel ist die Verringerung der Energiezufuhr um täglich 500 bis 600 Kalorien unter den Bedarf, was eine moderate und nachhaltige Gewichtsabnahme von etwa 0,5 Kilogramm pro Woche ermöglicht. Es gibt jedoch nicht die „eine“ optimale Diätform. Vielmehr wird den Betroffenen nahegelegt, auf eine Methode zurückzugreifen, die ihrer Lebensweise und ihren Essgewohnheiten entspricht. Unter den anerkannten Diätformen werden fettreduzierte, kohlenhydratreduzierte und mediterrane Ernährungsweisen empfohlen, ebenso wie die Ernährung nach den zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) oder vegetarische und vegane Ernährungsformen. Auch intermittierendes Fasten wird als wirksam beschrieben; hier variieren die Ansätze zwischen Modellen wie 2:5-Fasten, „Alternate-Day“-Fasten und „Time-restricted Eating“, bei dem das Essen auf einen Zeitraum von beispielsweise acht Stunden pro Tag begrenzt wird.

Für Menschen mit einem BMI über 30 kg/m² empfiehlt die Leitlinie zur Intensivierung der Therapie eine sehr niedrige Kalorienzufuhr, die jedoch engmaschig ärztlich betreut werden muss. Bei dieser sogenannten „very low calorie diet“ (VLCD) wird die tägliche Energiezufuhr auf 800 bis 1200 Kalorien beschränkt, was eine Gewichtsreduktion von bis zu 2,5 Kilogramm pro Woche erreichen kann. Diese Therapie ist allerdings auf maximal zwölf Wochen begrenzt und darf nicht ohne medizinische Kontrolle erfolgen, da das Risiko für Komplikationen steigt. Die Anpassung der Medikation und eine ständige Beobachtung von Kontraindikationen sind notwendig. Patienten mit bestimmten Grunderkrankungen wie Herzinsuffizienz (Stadien III und IV), instabiler Angina pectoris oder schweren Atemwegserkrankungen wird von dieser Methode ausdrücklich abgeraten.

Erstmals nimmt die Leitlinie auch digitale Gesundheitsanwendungen in die Therapie von Adipositas auf. Digitale Tools wie Apps und Wearables können die Betroffenen in ihrem Alltag begleiten und eine kontinuierliche Selbstüberwachung ermöglichen. Die Leitlinie unterscheidet dabei klar zwischen den durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) regulierten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) und kommerziellen Lifestyle-Apps, die zumeist ohne wissenschaftliche Kontrolle angeboten werden. Während digitale Programme die Gewichtsreduktion unterstützend fördern können, betonen die Leitlinienautoren, dass sie die persönliche Betreuung nicht ersetzen können. Für Menschen, die die persönliche Beratung nicht in Anspruch nehmen können oder wollen, stellen telefonische oder internetbasierte Interventionen jedoch eine wirksame Alternative dar, wie aus der Leitlinie hervorgeht.

Ein zentraler Aspekt der neuen Fassung ist die Thematisierung von Stigmatisierung und Diskriminierung, mit denen adipöse Menschen konfrontiert sind. Die Leitlinie zeigt auf, dass Vorurteile und negative Einstellungen gegenüber adipösen Menschen sowohl im gesellschaftlichen Umfeld als auch innerhalb des Gesundheitssystems tief verankert sind. Diese Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene notwendige Arztbesuche und Vorsorgeuntersuchungen meiden, was zu einer Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation beiträgt. Daher fordern die Autoren umfassende Änderungen in der medizinischen Ausbildung, um Fachpersonal für diese Problematik zu sensibilisieren.

Im Bereich der Pharmakotherapie verzeichnet die Leitlinie bedeutende Fortschritte durch die Einführung moderner Medikamente wie der GLP-1-Agonisten Semaglutid und Liraglutid. Diese Medikamente, die ein Sättigungsgefühl erzeugen und den Blutzucker regulieren, sind ab einem BMI von 27 kg/m² (bei weiteren Risikofaktoren) oder ab einem BMI von 30 kg/m² ohne zusätzliche Risiken einsetzbar. Die Wirkung von GLP-1-Agonisten könnte durch die erst kürzlich zugelassene Substanz Tirzepatid weiter gesteigert werden, die auch an Rezeptoren des Glucose-abhängigen insulinotropen Polypeptids (GIP) bindet und so eine noch stärkere Gewichtsreduktion verspricht. Orlistat kann hingegen ab einem BMI von 28 kg/m² verschrieben werden. Die Leitlinie empfiehlt jedoch, dass eine medikamentöse Therapie stets mit einer Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie kombiniert werden sollte. Zwar ist die Therapie zeitlich nicht begrenzt, aber regelmäßige Erfolgskontrollen sind unabdingbar, um die Nachhaltigkeit der Behandlung zu sichern.

Deutlich positioniert sich die Leitlinie gegen den Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln und homöopathischen Produkten wie Madar und Fucus vesiculosus, deren Wirksamkeit nicht wissenschaftlich belegt ist. Die Autoren mahnen, dass diese Präparate weder dem Standard einer fundierten Therapie entsprechen noch die gewünschten Effekte erzielen können.

Kommentar: Ein ganzheitlicher Ansatz gegen Vorurteile und für wirksame Hilfe

Die neue Leitlinie zur Adipositastherapie ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer modernen, integrativen und patientenzentrierten Behandlung von Übergewicht und Adipositas. Sie betrachtet die Betroffenen ganzheitlich, geht auf körperliche, seelische und soziale Aspekte ein und schafft so ein umfassendes Verständnis für die Problematik. Dies ist angesichts der steigenden Zahlen von Menschen mit Adipositas dringend notwendig. Die Leitlinie rückt erstmals die Stigmatisierung, der adipöse Menschen ausgesetzt sind, ins Zentrum. Die Bedeutung dieser Neuerung kann kaum hoch genug eingeschätzt werden: Adipositas ist nicht nur ein medizinisches Problem, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung. Vorurteile, oft verharmlosend als „Dicke-Witze“ bezeichnet, verletzen die Würde der Betroffenen und verhindern ein gesundheitsförderliches Umfeld.

Erfreulich ist auch die Integration digitaler Anwendungen, die einen flexiblen Zugang zur Therapie ermöglichen. Viele Menschen mit Adipositas fühlen sich isoliert und scheuen vor einem direkten Gang zum Arzt oder Ernährungsberater zurück – hier können digitale Tools niedrigschwellige Alternativen schaffen. Die Leitlinie setzt dabei klare Standards und mahnt zur Vorsicht: Nur geprüfte DiGA-Anwendungen sollten als verlässliche Unterstützung gelten. Doch so positiv diese Entwicklungen auch sind, sie können die persönliche Betreuung nicht ersetzen, wie die Autoren der Leitlinie betonen. Gerade bei komplexen, multidisziplinären Erkrankungen wie Adipositas ist ein individuelles und empathisches Behandlungssetting unverzichtbar.

Die Fortschritte in der Pharmakotherapie, die eine medikamentöse Unterstützung ermöglichen, geben Menschen mit Adipositas neue Hoffnung auf langfristige Erfolge. GLP-1-Agonisten und der innovative Wirkstoff Tirzepatid eröffnen neue Möglichkeiten, die Sättigung und das Gewicht zu regulieren und so die gesundheitlichen Risiken deutlich zu senken. Doch wie die Leitlinie richtig festhält, sind Medikamente keine Lösung für sich allein: Die Kombination mit Ernährungs- und Bewegungstherapie ist essenziell, um den Weg zu einem nachhaltigen, gesunden Lebensstil zu ebnen.

Die klare Ablehnung von Nahrungsergänzungsmitteln und homöopathischen Präparaten ohne Wirksamkeitsnachweis ist eine notwendige Mahnung. Präparate, deren Effekte nicht wissenschaftlich fundiert sind, haben in einer evidenzbasierten Therapie keinen Platz und schaffen falsche Hoffnungen, die Patienten auf Abwege führen können. Die neue Adipositas-Leitlinie ist ein umfassender, moderner Ansatz, der Fachleuten und Betroffenen gleichermaßen Orientierung bietet und die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie legt.

Von Engin Günder, Fachjournalist

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