Der Kläger befuhr mit seinem Pkw eine Einbahnstraße, in der beidseitig geparkt werden durfte. An der rechten Straßenseite befand sich ein großes „Park and Ride“-Parkplatzgelände. Dieses Gelände hatte im oberen Teil der Einbahnstraße eine Zufahrt, die auch als Ausfahrt genutzt wurde. Die Beklagte fuhr mit ihrem Pkw aus dieser Ausfahrt heraus und wollte nach rechts abbiegen, wobei es zu einer Kollision mit dem Klägerfahrzeug kam.
Die Beklagte ging davon aus, dass die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ galt, da keine Vorfahrtsschilder aufgestellt waren. Der Kläger widersprach und argumentierte, dass die Beklagte aus einer Grundstückseinfahrt kam, für die die „rechts vor links“-Regel nicht gilt.
Das Amtsgericht Lübeck folgte der Argumentation des Klägers und entschied, dass die Ausfahrt des Parkplatzgeländes als Grundstücksausfahrt zu betrachten sei. Die Beklagte habe somit gegen § 10 der Straßenverkehrsordnung (StVO) verstoßen, indem sie ohne ausreichende Beachtung des fließenden Verkehrs nach rechts abbog.
Das Gericht stellte weiter fest, dass die Beklagte selbst dann allein schuld am Unfall gewesen wäre, wenn die Straße, die der Kläger befuhr, als Teil des Parkplatzgeländes angesehen worden wäre. Der Grund hierfür liegt in der abgesenkten Bordsteinkante, die die Beklagte beim Abbiegen überfahren musste. Eine solche Bordsteinkante hebt die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ gemäß § 10 StVO auf.
Das Urteil des Amtsgerichts Lübeck steht im Einklang mit einer früheren Entscheidung des Landgerichts Köln aus dem Mai 2020, das ebenfalls feststellte, dass abgesenkte Bordsteinkanten die „rechts vor links“-Regel außer Kraft setzen.
Dieses Urteil unterstreicht die Bedeutung der Kenntnis spezifischer Verkehrsregelungen an Grundstücksausfahrten und Bordsteinkanten. Es trägt zur Klarstellung der Rechtslage bei und hat weitreichende Bedeutung für die Sicherheit im Straßenverkehr, insbesondere in Bereichen, in denen Grundstücksausfahrten in öffentliche Straßen münden.
Kommentar:
Das Urteil des Amtsgerichts Lübeck ist ein wichtiges Signal für alle Verkehrsteilnehmer: Die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ ist nicht universell anwendbar und kann unter bestimmten Umständen aufgehoben sein. Besonders an Grundstücksausfahrten und bei abgesenkten Bordsteinkanten ist erhöhte Vorsicht geboten. Die Entscheidung des Gerichts ist ein bedeutsamer Schritt zur Klarstellung der Rechtslage und trägt zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bei.
Verkehrsteilnehmer müssen sich der spezifischen Regelungen bewusst sein, die an unterschiedlichen Ausfahrten und Kreuzungen gelten. Dieses Urteil erinnert daran, dass die Straßenverkehrsordnung vielfältige Situationen regelt, die nicht immer intuitiv sind. Nur durch ein klares Verständnis und die sorgfältige Beachtung dieser Regeln können Unfälle vermieden und die Sicherheit auf unseren Straßen gewährleistet werden.
In einer Zeit zunehmenden Verkehrs und wachsender Komplexität im Straßenverkehr ist die Kenntnis solcher Detailregelungen unerlässlich. Die Entscheidung des Amtsgerichts Lübeck sollte daher als Aufforderung verstanden werden, sich kontinuierlich über geltende Verkehrsregeln zu informieren und diese strikt zu befolgen.
Von Engin Günder, Fachjournalist