Die Recherchen des Berufsverbands lassen das LKW-Kartell in einer neuen Dimension erscheinen.
Die Recherchen von Camion Pro zeigen: Nicht erst seit 1997, sondern schon seit Mitte der Achtzigerjahre gab es offenbar intensive, wettbewerbssensible Kontakte zwischen den europäischen LKW-Herstellern. Camion Pro e.V. verfügt über vertrauliche Informationen der EU-Kommission, die bisher nicht öffentlich bekannt waren, das LKW-Kartell jedoch in einem anderen Licht erscheinen lassen. Die Beweismittel wurden von den Camion-Pro-Anwälten schon 2022 in das Schadensersatzverfahren vor dem OLG München eingebracht, bisher aber nicht verhandelt.
Unterlagen der Europäischen Kommission sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich
„Die im Prozess gegen MAN vor dem OLG München bereits 2022 eingebrachten Informationen stammen aus den Ermittlungsakten der Europäischen Kommission gegen die am LKW-Kartell beteiligten Hersteller“, erklärt Andreas Mossyrsch, Vorstand des Berufsverbands. Diese Akten sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Camion Pro e.V. liegen allerdings detaillierte Informationen zu den Meetings und den Namen der teilnehmenden Unternehmen, Personen, Inhalten sowie den Örtlichkeiten, an denen die Absprachen getroffen wurden, vor. Wie Camion Pro e.V. an diese Unterlagen gekommen ist, darüber möchte Camion-Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch keine Erklärung abgeben.
Neue Dimension des Kartells: Muss die Geschichte des LKW-Kartells neu geschrieben werden?
„Aus unserer Sicht beschreiben die dem Gericht von uns zur Kenntnis gebrachten Informationen bisher völlig unbekannte Aspekte und detaillierte Abläufe zu den widerrechtlichen Aktivitäten der europäischen LKW-Hersteller“, führt Mossyrsch weiter aus. „Dadurch entsteht ein ganz anderes Bild über die Dimension und die Qualität des LKW-Kartells als bisher bekannt.“
Die wichtigste Argumentation der Hersteller könnte nun kippen.
Im aktuellen, wie auch in anderen Schadensersatzverfahren von geschädigten Unternehmen, hatten die LKW-Hersteller stets behauptet, dass die Kartellabsprachen zu keinen höheren Preisen für die Kunden geführt hätten und somit auch kein Schaden entstanden sei. Daher seien Schadensersatzforderungen dem Grunde nach ungerechtfertigt. Die Hersteller stützen sich dabei auf wettbewerbsökonomische Analysen, die die Entwicklung der LKW-Preise während des angenommenen Kartellzeitraums (1997-2011) betrachten und zu dem Ergebnis kommen, dass sich während dieses Zeitraums keine kartellbedingten Preissprünge feststellen lassen würden.
Haben Sachverständige bisher den falschen Zeitraum bewertet?
„Sollte es zutreffen, dass die Kartellabsprachen schon Mitte der 1980er Jahre begonnen hatten, würde das bedeuten, dass Sachverständige in ganz Europa den falschen Zeitraum bewertet haben und die Wirkung des LKW-Kartells auf die Marktpreise 1997 schon längst eingeflossen war“, erklärt Andreas Mossyrsch, Vorstand von Camion Pro e.V. „Der Schaden wäre daher insgesamt deutlich höher als bisher bekannt und nachweisbar.“
„Sollten die am Kartell beteiligten Hersteller den dahingehenden Sachvortrag von Camion Pro e.V. nicht entkräften können, müsste wohl die Geschichte des LKW-Kartells neu geschrieben werden“, so Mossyrsch. Dies müsse zwangsläufig auch zu einer Neubewertung der Schadensersatzansprüche gegen alle am Kartell beteiligten Hersteller führen.
Kartellabsprachen schon seit Mitte der Achtzigerjahre? Was sagen die Hersteller?
Bemerkenswert erscheint, dass die von den Camion-Pro-Anwälten vorgetragenen Sachverhalte vor dem OLG München zum Beginn des Kartells in ihrem Kern bis heute von den Prozessgegnern dem Grunde nach nicht bestritten werden. „Wir hatten erwartet, dass der beklagte LKW-Hersteller MAN, sich gegen die Vorwürfe wehrt oder diese zumindest erheblich relativieren würde“, so Mossyrsch. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach der Zivilprozessordnung ein Sachvortrag, dem nicht widersprochen wird, als zugestanden gilt und daher vom Gericht als Tatsache der Entscheidungsfindung zugrunde gelegt werden muss.
Camion Pro e.V. klagt schon seit 2017 für seine Mitglieder und sieht nun höhere Schadenersatzforderungen.
Camion Pro e.V. klagt seit 2017 vor dem Landgericht / OLG München auf Schadensersatz in Millionenhöhe. Um jedem einzelnen Käufer einen individuellen Schadensersatzprozess gegen die LKW-Hersteller zu ersparen, hatte sich Camion Pro e.V. (bereits 2017) die Forderungen der Mitglieder abtreten lassen.
Der Berufsverband ist seither unmittelbare Prozesspartei und hat mit Unterstützung von spezialisierten Anwälten am Landgericht München Klage gegen „das LKW-Kartell“ eingereicht. Die Klage wurde 2019 in erster Instanz abgewiesen, da die LKW-Hersteller die Rechtmäßigkeit der Abtretung bestritten haben und auch das Landgericht München in erster Instanz (2019) die Abtretungen als nicht rechtmäßig ansah. In den letzten Jahren haben aber höchstrichterliche Rechtsprechungen die Vorgehensweis von Camion Pro e.V. in dieser Frage gestärkt. Im jüngsten Verfahren wollte das Oberlandgericht hierzu noch nicht urteilen und hat eine Entscheidung für den sechsten Juni 2024 angekündigt.
Camion Pro e.V. sieht durch seine Recherchen die Position der Kläger stark verbessert sowie eine gute Möglichkeit, deutlich höhere Schadenersatzforderungen gegen die Hersteller durchzusetzen.