Interview: David Gorr
VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT: Versicherer haben gerade viel Beratungsbedarf in Sachen ESG-Reporting. Die Einführung und Nutzung von Software für das Thema ist kein einfaches oder kurzes Vorhaben. Was gilt es zu beachten, wenn man die IT und Nachhaltigkeitsziele zusammenbringen will?
MARTIN HINZ: Wichtig ist, das Thema zeitnah aufgrund der umfangreichen Berichtspflichten anzugehen. Die dringendsten Fragen im Rahmen der ESG-Vorstudien und -Projekte sind: Wo kommen die Daten her, die ich für das ESG-Reporting benötige, und wie kann ich diese künftig möglichst automatisiert aufbereiten?
Häufig sind die ESG-Daten über die gesamte Systemlandschaft verteilt, oft in Abteilungssilos oder Tabellenkalkulationen und es existieren bereits einige versicherungsspezifische Softwareprodukte. Aus unserer Sicht ist jedoch der Aufbau einer weiteren separaten, nicht integrierten „Berichtssäule“ mit einer separaten Softwarelösung ausschließlich für die Nachhaltigkeitsberichterstattung ineffizient. Hierfür lohnt es sich auf die bestehenden Finanzsysteme im CFO-Bereich zu schauen, da die ESG-Daten hiermit eng verknüpft sind. Damit sind wir dann sehr schnell in der SAP-Welt. Da das regulatorische taxonomiebasierte Berichtswesen aus CSRD, Solvency II, CbC-Reporting sowie Berichtspflichten an Finanz- und EU-Behörden immer weiteranwachsen wird, ist es zweckmäßig, bestehende Insel- bzw. Speziallösungen zu konsolidieren und jetzt in eine zentrale „Finanz-Datenarchitektur“ für das Statutory- und Management-Reporting zu investieren. Dafür entwickeln wir mit der SAP Fioneer noch 2023 eine Lösung auf Basis eines versicherungsspezifischen Datenmodells.
Einige Versicherer erneuern ihre Kernsysteme. Warum sollte man das machen, wenn es seit Jahrzehnten stabil läuft und man auch mit einem Altsystem innovative Produkte und Services auf dem Markt launcht?
HANS-PETER HOLL: Ja, auch mit bestehenden Systemen lassen sich innovative Produkte und Services am Markt launchen. Die Frage ist, wie schnell und wie flexibel? In den historisch gewachsenen, heterogenen IT-Landschaften lassen sich diese Anforderungen meist nur mit hohem Aufwand umsetzen. Die Wartung der Systeme ist zusätzlich alles andere als effizient. Die Lebensversicherung hat hier bereits früh reagiert, und die meisten Systeme sind modernisiert bzw. befinden sich in der Modernisierung. Der Komposit-Bereich zieht langsam nach.
MARTIN HINZ: Genauso, wie die IT-Systemlandschaft der Versicherer gewachsen ist, ist auch die Mannschaft mit ihr gewachsen und wandert in den nächsten Jahren eventuell in den Ruhestand ab. Der Nachwuchs arbeitet heute eher mit Java und nicht mit Cobol und PL1. Es ist sehr schwer bzw. kaum möglich, entsprechendes Personal mit diesem Technologie-Stack am Markt zu bekommen. Die Modernisierung von Kernsystemen stellt natürlich immer noch ein mehrjähriges Mammutprojekt dar. Es gibt dazu aber bereits Best Practices und sehr viel Erfahrung im Markt. Die Projektrisiken sind damit genauer abschätzbar. Keine Modernisierung der Kern-IT-Systeme ist mit den genannten Gründen keine Option.
Wenn sich ein Versicherer für die Erneuerung entscheidet, lautet die Gretchenfrage stets: Eigenentwicklung oder eine Standardlösung? Wann ist was sinnvoll und worauf kommt es bei der Auswahl an?
HANS-PETER HOLL: Mittlerweile existieren etablierte Standardlösungen am Markt, sodass Eigenentwicklungen kaum noch eine sinnvolle Option sind, eventuell in Nischenprodukten. Eigenentwicklungen verursachen hohe Kosten, dauern oftmals sehr lange, und die Gretchenfrage lautet dann: Wer soll das neue System entwickeln? Die Mannschaft, die mit der Wartung des bestehenden Systems ausgelastet ist? Für eine echte Modernisierung benötigt es auch eine neue Sichtweise auf bestehende Prozesse. Meist muss dann doch auch wieder auf externes Personal, sprich Berater und Beraterinnen, zugegriffen werden, um einen erfahrenen Blick von außen zu erhalten.
MARTIN HINZ: Ein großer Vorteil von Standardsystemen sind außerdem die auch künftig noch weiter steigenden regulatorischen Anforderungen, z. B. VAIT. Diese Vorgaben müssen bei Standardsystemen nicht von jedem Versicherer einzeln, sondern können zentral vom Hersteller gelöst werden. Bei der Auswahl des richtigen Systems helfen vor allem Referenzprojekte der Anbieter. Eine detaillierte Vorstudie bringt im nächsten Schritt Klarheit.
Der Digitalisierungsturbo wird auch durch ChatGPT gezündet. Fördert das den Versicherungsbetrug oder überwiegen die Potenziale der KI im Bereich NLP?
HANS-PETER HOLL: ChatGPT hat sicherlich in den letzten Wochen wieder sehr viel Aufmerksamkeit auf das Thema Künstliche Intelligenz gebracht. Vor allem Endnutzer können es jetzt ohne große Hürden nutzen. Was bisher eine Blackbox für viele war, wird nun greifbar. Damit existiert eine sehr viel breitere Basis für potenziellen Versicherungsbetrug. Es gehen aber auch viele Potenziale für den Einsatz für Versicherer damit einher. Wichtig ist, dass Versicherer nicht die Augen vor den Entwicklungen verschließen, sondern sich frühzeitig damit auseinandersetzen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Aufgrund der Komplexität von Versicherungstexten haben wir bereits ein eigenes Sprachmodell, das mit Versicherungstexten nachtrainiert wurde, entwickelt. Auf dem Modell basierende Lösungen laufen bereits bei Versicherungsunternehmen. Klar ist: Es handelt sich um keinen vorübergehenden Trend! Unabhängig von ChatGPT wird die technologische Entwicklung in diesem Bereich das Arbeiten künftig disruptiv verändern.
Seit dem 1. Januar 2023 haben Sie die drei Beratungsunternehmen enowa, Axxiome Health und ConVista Consulting unter einem gemeinsamen Namen, Convista, gebündelt. Warum?
MARTIN HINZ: Tatsächlich genau aus dem Grund, den wir gerade angesprochen haben. Versicherer achten immer mehr auf vorhandenes Versicherungs-Know-how und möchten gerne die Beratungsleistung auch für komplexe Projekte verantwortlich aus einer Hand erhalten, statt mehrere Einzelbeauftragungen durchführen zu müssen. Das können wir durch die Zusammenführung der Leistungen unter einem Dach, der Convista, nun leisten. Convista ist bislang vor allem für SAP-Beratung bekannt. Jetzt bieten wir mit den Leistungen der bisherigen enowa und Axxiome Health Beratungsleistungen entlang der kompletten Versicherungswertschöpfungskette. Über 400 Fach- und Prozessberater und Beraterinnen, u. a. auch Aktuare, und über 100 Entwickler und Entwicklerinnen lösen individuelle Herausforderungen von Versicherungsunternehmen.
Die Beratungsbranche profitiert von Krisen, aber ist ebenso dem digitalen Wandel unterworfen, kämpft um Fachkräfte und muss sich neuen Kundenwünschen anpassen. Welchen Wandlungsprozess muss man durchlaufen, um Versicherer langfristig an sich zu binden?
HANS-PETER HOLL: Beratungsunternehmen haben auch mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen. Das ist ganz klar. Dafür können wir Mitarbeitenden spannende Projekte, Technologien und unterschiedliche Erfahrungen bieten. Das ist sicherlich ein Vorteil und macht uns attraktiv als Arbeitgeber. Gerade die Coronajahre haben Veränderung in der Zusammenarbeit zwischen Versicherungen und Beraterfirmen gebracht. Beide Seiten haben erkannt, dass es nicht zwingend notwendig ist, ständig bei Versicherungen vor Ort zu sein, um beraten zu können. Diese Flexibilität schätzen mittlerweile nicht nur Versicherer, sondern auch die Berater. Zusätzlich gilt gerade für eine langfristige Unterstützung von Versicherern, die neuesten Trends immer im Hinblick auf die spezifischen Herausforderungen der Versicherungswelt hin zu prüfen und zu bewerten.