Dr. Sabrina Zeplin: Data Scientists finden bei uns tatsächlich ideale Bedingungen: sehr viele spannende Daten, herausfordernde Anwendungsfälle und leading-edge Technologie. Gerade technologisch erfinden wir uns ständig neu und entwickeln auch Open-Source-Lösungen, wo es noch nichts gibt. Gleichzeitig nutzen wir die vielen spannenden Open Source Entwicklungen, die weltweit in der KI-Community entstehen und denken sie weiter. Unser Anspruch ist, Probleme auf ganz neue Art und Weise zu lösen und so zur Begeisterung unserer Kunden und damit nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen beizutragen. Dafür müssen wir in alle Richtungen denken – mit einem jährlich stattfindenden mehrtägigen Datathon haben wir das Experimentieren sogar ein Stück weit institutionalisiert.
Dann haben Sie nicht nur Data Science, sondern auch eine agil geprägte Arbeitsweise erfolgreich implementiert. Welche realen Hürden müssen Unternehmen heute überwinden, um damit erfolgreich zu werden?
Neben der fachlichen Kompetenz liegt die Antwort auch in der eigenen Unternehmenskultur. Bin ich bereit meine Daten zu teilen? Nutze ich vorhandene Synergien zielführend? Erkenne ich rechtzeitig, wenn ich Unterstützung – möglicherweise auch aus einem anderen Fachbereich – benötige? Diese und ähnliche Fragen spielen eine große Rolle in Zeiten der Digitalen Transformation. Wir stellen bei der Otto Group zunehmend fest, dass sich neue Technologien nur dann zielführend integrieren lassen, wenn ein breites Portfolio an Fachexperten draufschaut, weshalb wir zunehmend interdisziplinär arbeiten, unter anderem im Bereich Voice Commerce.
Gab es in diesem Prozess etwas, woran Sie sich wirklich die Zähne ausgebissen haben?
Wir lernen quasi jeden Tag dazu, weil wir eben auch regelmäßig Fehler machen. Wir probieren aus, verwerfen, was nicht funktioniert, und gehen es neu an. Unser Problem war anfangs manchmal, dass wir mit manchen Ansätzen zu früh dran waren. In einem konkreten Fall hatten wir eine einsatzbereite Lösung, aber es gab keine Schnittstelle, in das wir diese hätten einspielen können. Da haben wir schlichtweg unsere Planungs- und Recherchehausaufgaben nicht gemacht. Was wir daraus gelernt haben: Immer ganzheitlich planen – dann klappt’s auch mit der Implementierung.
Diese Arbeit quer zu den Fachabteilungen, wie Sie sie beschreiben, kann da auch Reibungspunkte provozieren, oder?
Es wäre fatal für den Geschäftserfolg, wenn es sie nicht geben würde! Wenn im Zuge eines Technologie-Projekts beispielsweise Softwareentwickler, Datenexperten, Marketer und Strategen zusammenkommen, dann teilt man zwar die Vision, hat fachlich am Anfang aber keinen gemeinsamen Nenner. Dann aber fängt man an, voneinander zu lernen und den eigenen Aktionsradius zu erweitern. Dafür sind unter anderem auch Streitgespräche wichtig – solange sie konstruktiv bleiben. Perspektivwechsel passieren selten im Kuschelmodus.
Führt dieser Perspektivwechsel auch zu einer anderen Art des Arbeitens und Kooperierens? Und wenn ja, welchen Einfluss hat KI dabei?
KI – als Symbol für das ganze Thema Digitale Transformation – nehme ich als starken Treiber wahr. Denn aktuell haben wir bei dem Thema mehr Fragezeichen als Antworten parat. Auch aus diesem Grund verzichten wir bewusst darauf, uns in Fünfjahresplanungen zu verbeißen. Die Digitalisierung zwingt uns vielmehr, in Sprints zu denken – ein Ansatz, den wir aus der agilen Arbeitsweise her kennen. Ich denke, auch darin liegt der Grund für die zunehmende Relevanz von Scrum, Extreme Programming und Co. Veränderungen begrüßen, Fehler als Basis für den Fortschritt erkennen – darum geht es in der Theorie und zunehmend auch in der Praxis. In der Group-BI beispielsweise machen wir regelmäßig Post-Mortem-Workshops, um sicher zu stellen, dass wir aus unseren Fehlern die richtigen Schlüsse ziehen. Auf Konzernebene veranstalten wir regelmäßig Fuck-Up-Nights, bei denen Kollegen über alle Hierarchieebenen hinweg von ihren größten beruflichen Fehlentscheidungen erzählen.
Wirkt das, was daraus entsteht auch auf die Strategie der Otto Group?
Natürlich. Aber das gilt genauso für die Ergebnisse aus anderen Fachabteilungen sowie Initiativen und Projektgruppen. Unser Ziel ist es, zu einem voll digitalisierten Handels- und Dienstleistungskonzern zu werden. Umso wichtiger ist es, das Wissen und auch die Ideen möglichst aller Akteure in strategische Entscheidungen umzuwandeln. Durch den vor gut drei Jahren angestoßenen Kulturwandel schaffen wir inzwischen die nötige Vernetzung: Barrieren verschwinden und Menschen, die vorher nie aufeinander zugegangen wären, arbeiten jetzt in cross-funktionalen Teams. Und wir freuen uns darüber, dass immer mehr Entscheidungen datenbasiert oder sogar automatisiert getroffen werden.
Und wie reagieren die Kunden auf die Veränderungen?
Darauf gibt es zwei Antworten: Wenn wir unsere Arbeit gut machen, dann merkt der Kunde gar nicht, dass eine KI im Hintergrund agiert. Ein Beispiel wären die so genannten Aggregated Reviews, die wir für otto.de gebaut haben und sukzessive auch bei anderen Konzernunternehmen zum Einsatz kommen werden. Mithilfe von Machine Learning haben wir ein beim Kunden sehr anerkanntes Feature, die Produktbewertung, noch intelligenter gemacht, indem wir eine automatische Zusammenfassung eingebaut haben. Dadurch kann der Nutzer Rezensionen nach bestimmten Kriterien durchsuchen. Hier steht der Mehrwert im Vordergrund – dass sich dahinter ein hochkomplexes technologisches Framework verbirgt, wird kaum wahrgenommen. Das erkennen wir daran, dass das Tool umgehend vom Kunden angenommen wurde. In einem gesellschaftlichen Kontext wiederum erlebe ich die Debatte um KI oft als sehr angstgetrieben, vor allem, wenn es um Automatisierung geht. Ihr haftet bereits heute unter anderem das Label "Jobkiller" an, dabei gibt es kaum Anhaltspunkte dafür. Und das ist nur ein Beispiel. Ich denke, hier gilt es noch viel Aufklärung zu leisten und Vertrauen zu schaffen – auch seitens der Unternehmen.
Eine abschließende Frage: Welchen Rat würden Sie verantwortlichen Managern geben, die gerade erst am Anfang eines Experiments mit KI stehen?
Mein Rat: Öfter mal den Schreibtisch verlassen und rein ins Lab. Nur wer Technologie selbst ausprobiert, kann am Ende auch wirklich fundierte Urteile treffen. Zudem hilft es ungemein, die Perspektive des Endverbrauchers einzunehmen. Grundsätzlich sollte der Mensch bei all unseren Entscheidungen immer im Mittelpunkt stehen.
Herzlichen Dank für das spannende Gespräch