Früher musste alles strikt strukturiert sein: Roboter, das waren Maschinen, die ein und denselben Arbeitsschritt immer und immer wieder vollführt haben. Dazu sollte sich der Gegenstand, den sie bearbeiten sollten, an derselben Stelle befinden. Meistens war er auch identisch geformt. So war es Robotern zum Beispiel möglich, in einem Warenlager Großaufträge zum Transport bereit zu stellen. Das aber reicht heute nicht mehr aus.
„Geschäfte haben weniger Lagerfläche. Kunden bestellen kleinteiliger, individueller“, sagt Crystal Parrott, Global Vice President des Robotics Center of Excellence von Dematic. Gefragt sind deswegen seltener große Aufträge identischer Produkte, sondern eine Mischung ganz verschiedener Artikel. Diese soll möglichst schnell zusammengestellt werden. „Das ist eine ganz neue Form an Komplexität“, sagt Parrott. Die Maschine muss unterschiedliche Gegenstände in unterschiedlichen Positionen greifen. Dabei weiß sie noch nicht einmal, welcher Gegenstand ihr als nächstes vorgesetzt wird.
Vielen Branchen geht es genauso wie dem Roboter
Diese Herausforderung ist in mehrfacher Hinsicht symptomatisch. Sie rührt aus dem Aufstieg des Onlinehandels, sie legt unser aller geändertes Konsumverhalten offen. Sie ist Ausdruck voranschreitender Urbanisierung, die wiederum zu kleinen Warenlagern nahe am Kunden führt. Vor allem aber geht es zahlreichen Branchen und Unternehmern genauso wie dem Kommissionier-Roboter: Sie wissen nicht, was als nächstes kommt. „Viele Kunden können nicht sagen, welches Business sie morgen bedienen“, erklärt Parrott: Warenlager werden kurzfristig angemietet, Manager müssen sich auf überraschende Auftragspeaks einstellen, oder auf schnell ändernde Kundenwünsche. „Das Warenlager war lange Zeit statisch“, beschreibt Parrott: „Das ist es nicht mehr. Die Funktionen sind künftig noch dieselben, aber wie sie ausgefüllt werden, wird modular sein, je nach Platz und Bedarf.“
All das zusammengenommen beschreibt die Anforderungen an das Warenlager der Zukunft bereits recht genau: Es wird nahezu komplett automatisiert sein. Maschinen und Technik übernehmen nicht mehr nur monotone, standardisierte Arbeitsschritte, sondern sollen aufgrund ihrer gesammelten Daten und ihrer Analysefähigkeit selbst Entscheidungen treffen. Wenn sie das beherrschen, bedeutet das Effizienz, Schnelligkeit – und ein Warenlager, in dem Menschen nicht mehr körperlich arbeiten müssen, und somit die Beleuchtung ausgeschaltet werden kann. Oder zumindest deutlich heruntergedimmt wird. Daher der Begriff „Dark Warehouse“.
Eine komplette Branche forscht daran, Maschinen beizubringen, wie sie Gegenstände aus einer Kiste holen, die alle unterschiedlich aussehen, weich sind oder hart, vielleicht eine fettige Oberfläche haben, oder wo dieselbe Ware gestern noch in einer komplett anderen Verpackung steckte, weil es eine Jubiläums-Edition war. Technisch geht das mit Finger-Greifern oder mit Hilfe von Vakuum. Aber die Roboter müssen intelligenter werden. „Sie müssen wissen, wo genau sich ihr Arm in Relation zum Produkt befindet“, beschreibt Parrott. „Wo setze ich an? Dafür brauche ich Augen.“ Sprich: Kameras und Sensoren, die wiederum nicht ausreichen ohne eine künstliche Intelligenz, die steuert und das, was sie sieht, umrechnet in Bewegung.
Digitalisierung, Vernetzung und Technik treffen aufeinander
„Der Ingenieur der Zukunft muss verstärkt interdisziplinär denken“, bekräftigt Claudia Olsson, Gründerin von Stellar Capacity und Young Global Leader des World Economic Forums. Ingenieure werden sich beschäftigen müssen mit Themen von synthetischer Biologie und Neurowissenschaft bis hin zu ethischen Fragen, wenn es um künstliche Intelligenz gehe. Viele der Begrenzungen von Robotik seien dabei, sich aufzulösen: „Es gibt Cobots, Cyborgs und alle Arten von Variationen. Unsere Definition vom Roboter als Maschine aus Metall, die nur begrenzte Aufgaben übernehmen kann, wird sich deutlich erweitern.“
Dabei war das Warenlager schon immer ein Ort, an dem Innovationen entstanden sind, an dem sich gesellschaftliche und wirtschaftliche Trends verdichteten, wo Zeit und Effizienz eine besondere Rolle spielen. Obwohl das Lager gleichzeitig ein Ort ist, der in der öffentlichen Wahrnehmung vergleichsweise wenig Beachtung findet. Aktuell treffen hier Digitalisierung, neue Durchbrüche in der Infrastruktur von Vernetzung und technologischer Fortschritt aufeinander – inklusive der Vision, dass der Mensch künftig zur kognitiven, leitenden Instanz in einem sonst voll automatisierten Lagerhaus wird. „Logistik ist ein Treiber von Wandel, und sie spiegelt auch fundamentale Veränderungen unserer Weltwirtschaft wider“, sagt Olsson.
Das Lager rückt näher an den Kunden
Robotik ist der Schlüssel zu zahlreichen Herausforderungen, davon ist auch die Robotik-Expertin Crystal Parrott von Dematic überzeugt. Die wenigen noch bestehenden Automatisierungslücken werden bald geschlossen. „Konsequente Automatisierung ist sowohl für Großkunden mit riesigen Lagerflächen nützlich, als auch für den Einzelhändler vor Ort.“ Die sogenannte „letzte Meile“, also der Bereich in den Innenstädten, der direkte Kontakt zum Endkunden, sei es im Geschäft oder an der Haustür, ist auch für Dematic in vielerlei Hinsicht ein spannendes Feld. Aktiv bearbeitet wird es unter anderem durch Pilotprojekte wie dem PackMyRide-System, das vollautomatisiert Pakete verschiedenster Größen verarbeiten, in die gewünschte Reihenfolge bringen und in ein Verladeregal sortieren kann, welches dann per FTS (Fahrerlosem Transportsystem) automatisiert in den Lkw transportiert wird. Auch das war bis vor kurzem so nicht möglich und spart unter anderem Zeit: Die Paketzusteller müssen nicht mehr manuell sortieren und verladen, sondern können sich auf ihre Kernaufgabe konzentrieren – das Zustellen.
„Kein Kunde will mehr zwei Wochen warten. Deswegen muss das Lager näher zum Kunden“, drückt es Parrott aus. „Je näher wir an den Kunden rücken, desto günstiger wird die letzte Meile.“ Micro-Fulfillment ist hier das Stichwort, und auch hier hat Dematic bereits Lösungen parat: Systeme mit extrem kompakter Bauweise, die Aufträge innerhalb einer Stunde vollautomatisch zusammenstellen können, und die zum Beispiel an die Rückseite eines Einzelhandelsgeschäfts passen. Irgendwann werden Roboter auch beim Ein- und Ausräumen der Ladenregale helfen. Schon jetzt experimentiert die Gesellschaft ja mit automatisierten Fahrzeugen oder Drohnen, die Waren bis zum Kunden bringen.
Software und Materialfluss werden zum Wettbewerbsvorteil
Was eine weitere Anforderung an den Roboter der Zukunft in den Fokus rückt: Seine Bewegung. Er wird nicht mehr an einem Ort stehen. Lange Zeit war das FTS eine erste Lösung in dieser Richtung. Das allerdings musste geleitet und angewiesen werden. Künftig wird es durch Autonome Mobile Roboter (AMR) ergänzt, die selbstständig ihren Weg suchen und bei einem Hindernis nicht einfach stoppen, sondern es schlau umfahren. „Aber ein fahrender Roboter allein nützt ja noch nichts“, gibt Parrott zu bedenken: „Am besten ist, wenn man beides kombiniert: Vielleicht kann der Roboter seine Produkte greifen und sortieren, während beide sich bewegen, sodass Pickrate und Produktfluss noch effizienter werden?“ Die Folge wäre, die Innenarchitektur von Warenlagern komplett neu zu denken. Zum Beispiel, weil der Roboter nicht nur zum Regal fährt, sondern das Regal direkt mitbringt. „Die aktuellen technologischen Entwicklungen bieten die Chance, den gesamten Warenprozess anders zu planen“, sagt Parrott. Alles wird modular, alles wird beweglich.
Technik und Mechatronik seien künftig die Rohstoffe, aber Software und effiziente Planung machen den Wettbewerbsvorteil aus. „Hier will Dematic Spitzenreiter bleiben, darauf müssen wir uns konzentrieren“, bekräftigt Parrott: „Unser erklärtes Ziel ist, sämtliche Funktionen im lagerlogistischen Betrieb zu automatisieren, bei denen Roboter arbeiten, während Menschen sie managen.“ Künftig wird es vor allem darum gehen, Anwendungen flexibel für den jeweiligen Kunden zu adaptieren. Eine Herausforderung für die gesamte Automatisierungsbranche sind noch immer das Ausladen von Waren und die Auftragsabwicklung. Aber auch hier ist Parrott zuversichtlich.
Die Zukunft ist näher als gedacht
Die weltweite Einführung des 5G-Standards und die neuen Möglichkeiten durch Cloud-Computing werden zusätzliche Möglichkeiten für Innovation freisetzen. Mit 5G können noch mehr Daten noch schneller übertragen werden. „Wenn die Fahrzeuge und Geräte im Dark Warehouse miteinander kommunizieren sollen, müssen sie das möglichst kontinuierlich tun“, beschreibt Parrott. 5G wird die entsprechenden Datenmengen ermöglichen. Durch die Cloud erst lassen sich Künstliche Intelligenzen konsequent vernetzen. Dann können sich zum Beispiel FTS und AMR gegenseitig abstimmen und gleichzeitig ihre Daten austauschen – mit dem Regal, den menschlichen Mitarbeitern und den Produkten selbst. Größere Bandbreite erlaubt künftig auch die virtuelle Simulation von Maschinen, sogenannte „digitale Zwillinge“, die sich dann aus der Ferne bedienen und warten lassen, ohne dass ein Mensch das Lager betreten muss – bis hin zur Simulation des kompletten Lagers und seiner Warenflüsse. Das eröffnet komplett neue Bereiche für Planung und Analyse. Alles kann als ein vernetztes System gesteuert werden.
„Aktuell denken wir oft noch in einzelnen Maschinen“, prophezeit Technologieexpertin Olsson einen grundlegenden Paradigmenwechsel: „Künftig werden diese Maschinen so zusammenarbeiten, dass sich daraus eine große, integrierte Maschine ergibt.“ Eben das Dark Warehouse. Eventuell wird das Lager auch zur Materialandienung für sehr individuelle, maßgeschneiderte Kundenanforderungen, die just-in-time in Produktion oder im 3D-Drucker realisiert werden. „Das großartige an Technologie ist, dass sie sich ständig verändert“, betont Parrott. „In fünf Jahren kann alles schon anders sein.“ Vieles von dem, was aktuell erdacht werde, sei nicht mehr weit von der Umsetzung entfernt: „Die nächste Generation an Robotern kommt. Und das vermutlich schneller, als man denkt.“