In der VR China selbst sei das Echo im Internet weit weniger offensichtlich. Shi Ming: "Der 20. Jahrestag der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz ist in der Volksrepublik ein Tabu-Thema." Jede Beschäftigung damit, etwa in einem Blog, sei aufgrund der scharfen Zensur äußerst gefährlich. "Das Internet in China ist zum nationalen Intranet verkommen", so Shi Ming.
Und doch führe dies bei Bloggern in China selbst keineswegs zu Sprachlosigkeit. Shi Ming: "Sie praktizieren rund um den Jahrestag genau das, was Yang Hengjun in Bonn gesagt hat: Jeder Blog in China ist ein kleiner Protestplatz." Politisch aktive Kräfte nähmen den Jahrestag zum Anlass, neue technische Tricks und sprachliche Codes zu entwickeln, um das Massaker trotz der möglichen Repressalien zu thematisieren. So hätten chinesische Blogger zum Beispiel das Datum "35. Mai" eingeführt. Zähle man die kalendarisch nicht existierenden Tage weiter, komme man genau auf den Jahrestag des Massakers am 4. Juni. Binnen weniger Stunden seien zahlreiche innerchinesische Diskussionsforen "auf diesen Code aufgesprungen". In verschlüsselten Formulierungen hätten chinesische Diskutanten den Erfolg ihres Codes gefeiert und den Umstand, dass selbst die größte Internetpolizei der Welt überlistet worden sei.
Das aktuelle Beispiel, so Shi Ming, sei "hochinteressant auch im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Internet in der VR China als sozialer Kommunikationsraum. Die Parallelität von zwei Lauffeuern - das eine im westlichen Internet, das andere im chinesischen - korrespondiert und zeigt die potenzielle Kraft einer globalen zivilgesellschaftlichen Kommunikation."