Unfälle mit Kinderwagen auf Fahrtreppen sind keine Seltenheit. Sie passieren meist dadurch, dass Wagen (insbesondere bei Kinderwagen mit lenkbaren Vorderrädern) instabil und verkantet auf die Fahrtreppe gebracht werden bzw. diese so verlassen, zwischen Balustraden verkanten oder an den Balustradenköpfen eingeklemmt werden. Kinderwagen sind nicht auf die Stufen der Fahrtreppe abgestimmt und werden darauf im Allgemeinen auch nicht festgestellt, sodass sie z. B. bei unfallbedingter oder mutwilliger Betätigung des Nothalts leicht aus der Hand gleiten können, wenn der Halter selbst das Gleichgewicht verliert oder von hinten umgestoßen wird.
Für das Inverkehrbringen von Fahrtreppen gelten seit dem 29. Dezember 2009 die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen der neuen Richtlinie 2006/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Maschinenrichtlinie), in deutsches Recht umgesetzt durch die Maschinenverordnung (9. GPSGV). Neu ist dabei unter anderem eine Anforderung im Anhang I, die wie folgt lautet:
1.1.2. Grundsätze für die Integration der Sicherheit
a) Die Maschine ist so zu konstruieren und zu bauen, dass sie ihrer Funktion gerecht wird und unter den vorgesehenen Bedingungen — aber auch unter Berücksichtigung einer vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung der Maschine — Betrieb, Einrichten und Wartung erfolgen kann, ohne dass Personen einer Gefährdung ausgesetzt sind.
Die getroffenen Maßnahmen müssen darauf abzielen, Risiken während der voraussichtlichen Lebensdauer der Maschine zu beseitigen, ….
b) Bei der Wahl der angemessensten Lösungen muss der Hersteller oder sein Bevollmächtigter folgende Grundsätze anwenden, und zwar in der angegebenen Reihenfolge:
- Beseitigung oder Minimierung der Risiken so weit wie möglich (Integration der Sicherheit in Konstruktion und Bau der Maschine);
- Ergreifen der notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Risiken, die sich nicht beseitigen lassen;
- Unterrichtung der Benutzer über die Restrisiken ….
Während die alte Richtlinie 98/37/EG hier nur von „nicht ordnungsgemäßer Verwendung“ sprach, geht die neue Richtlinie nun darüber hinaus und fordert vom Hersteller eine angemessene Reaktion auf vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendungen (unsachgemäßes Verhalten). Berücksichtigt er diese nicht, haftet er verschuldensunabhängig für das Ereignis. Das Mitführen von Kinderwagen auf Fahrtreppen ist als Fehlanwendung nicht "vernünftigerweise vorhersehbar", sondern eine bekannte Tatsache.
Diesen Vorgaben aus der Maschinenrichtlinie wurde bereits bei der Neuausgabe der EN 115-1 für Fahrtreppen und Fahrsteige Rechnung getragen, die im März 2009 als DIN EN 115-1 veröffentlicht wurde. In Abschnitt 7.2.1.2.1 heißt es daher:
Folgende Gebots- und Verbotszeichen für den Benutzer müssen in der Nähe der Zugänge angebracht sein:
a) "Kleinkinder festhalten";
b) "Hunde müssen getragen werden";
c) "Handlauf benutzen";
d) "Kinderwagen verboten". ….
Dies bedeutet keine wesentliche Änderung gegenüber der Vorgängerversion der Norm von Januar 1995. Auch dort wird bereits der Betreiber der Fahrtreppe auf Folgendes hingewiesen:
Zusätzliche Hinweise können aufgrund örtlicher Bedingungen erforderlich werden, z. B. "Benutzung nur mit Schuhwerk gestattet", "Keine sperrigen und schweren Lasten transportieren", "Kinderwagentransport verboten".
Vorgenannter Hinweis an den Betreiber reicht für heute in Verkehr zu bringende Fahrtreppen nicht mehr aus. Er sollte jedoch verstärkt zur Kenntnis genommen werden, wenn es um die Beurteilung der Sicherheit bestehender Fahrtreppen geht und bei diesbezüglichen Unfällen die Betreiberpflichten angesprochen werden.
Das Verbotsschild hat durch die Darstellung in den Medien in Deutschland für größere Aufregung gesorgt. Wer das Schild missachtet und einen Kinderwagen mitnimmt, macht sich nicht strafbar. Wer einen Warnhinweis ausschlägt, handelt aber auf eigene Gefahr. In anderen europäischen Ländern ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Kinderwagen nicht auf Fahrtreppen gehören. Das gilt auch in Australien, China, Hongkong, Indien, Russland und Südafrika, wo die EN 115 angewendet wird. Im Rahmen der auf internationaler Ebene durchgeführten Arbeiten zur Angleichung der weltweit eingesetzten Fahrtreppennormen ist zu dem Kinderwagenverbot ebenfalls Konsens vorhanden.
Die Europäische Norm EN 115-1 ist ein Dokument, das mit breiter europäischer Beteiligung erarbeitet wurde. Im zuständigen Ausschuss waren Hersteller, Betreiber, Prüforganisationen, Behörden, Planer und Berufsgenossenschaften vertreten. Das Dokument wurde der Fachöffentlichkeit für fünf Monate zur Stellungnahme vorgelegt und in der europäischen Schlussabstimmung ohne Gegenstimme angenommen.
Kontakt:
Günter Horny
Normenausschuss Maschinenbau im DIN
guenter.horny@vdma.org