Selbst wenn heute unter Barrierefreiheit im Internet mehr verstanden wird als eine Eignung für Behinderte, so nahmen die Bemühungen um die Barrierefreiheit doch hier ihren Ursprung. Nicht ohne Grund: 8,5 Millionen Einwohner Deutschlands gelten nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes als behindert. „Menschen mit Behinderungen nutzen das Internet überdurchschnittlich häufig“, weiß Nickl. Zum Beispiel ist für die 700.000 Blinden und Sehbehinderten in Deutschland das Internet neben dem Radio das bevorzugte Informationsmedium. Sehbehinderte können sich Internettexte mit speziellen Browsern vorlesen lassen. Personen mit Spastiken oder anderen motorischen Störungen sind ebenfalls oft online. Ihr Problem: Wie Blinde können sie nicht mit der Maus navigieren. Statt dessen springen sie mit der Tabulatortaste von Text zu Text und von Seite zu Seite. Vorausgesetzt, die Internetseite lässt das auch zu.
„Die barrierefreie Internetseite gibt es nicht“, sagt Dr. Nickl. „Zu unterschiedlich sind die möglichen Beeinträchtigungen. Es gibt allenfalls barrierearme Seiten.“ Gut 60 Kriterien sind zu erfüllen, bis eine Internetseite wirklich barrierearm ist. Die Barrieren, die Internetnutzer am häufigsten aussperren, lassen sich jedoch mit einfachen Mitteln einreißen:
- Browser für sehbehinderte Nutzer beschränken sich auf Textausgabe. Die Internetseite muss also für einen Textbrowser sichtbar und logisch strukturiert sein. Scripten und Applets sind für Textbrowser nicht darstellbar.
- Blinde und sehbehinderte Nutzer erfassen Bilder nur über Textbeschreibungen („Alt“-Texte). Barrierefreie Seiten bieten zu jedem Bild einen aussagekräftigen „Alt“-Text.
- Sehbehinderte Nutzer stellen ihr System oder ihren Browser oft auf größere Schriftarten um. Die Internetseite muss dies gewährleisten, wobei Texte bei größeren Schriftarten nicht ineinander fließen dürfen.
- Farbenblinde Nutzer sind auf eine kontrastreiche Graustufendarstellung angewiesen.
- Sehbehinderte Menschen und Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen müssen die Möglichkeit haben, sich auf der Internetseite mittels Tastaturbefehlen zu orientieren.
- Geistig behinderte Menschen tun sich mit einfach strukturierten und kurzen Sätzen wesentlich leichter.
- Für Gehörlose ist in der Regel die Gebärdensprache Muttersprache. Deutsch, auch in der Schriftform, wird damit automatisch zur Fremdsprache. Internetseiten, die sich an Gehörlose wenden, sollten Videos in Gebärdensprache anbieten.
- Flackernde Animationen wirken störend und können bei Epileptikern sogar Anfälle auslösen.
Weil es schwierig ist, all diese Anforderungen auf einer Seite zu erfüllen, stellen sich viele Informationsanbieter die Frage, ob sie nicht besser zweigleisig fahren sollen – einen barrierefreien Internetauftritt für Sehbehinderte vielleicht und daneben einen, der Barrieren ignoriert. Markus Nickl warnt vor solchen Konstruktionen: „Sonderlösungen erreichen genau das Gegenteil des Gewollten und diskriminieren behinderte Menschen noch mehr. Einzig tolerable Ausnahme sind Seiten in Gebärdensprache für Gehörlose oder Texte in einfacher Sprache für geistig Behinderte.“ Von Barrierefreiheit profitieren nach den Erfahrungen Nickls nicht nur Behinderte, sondern alle Menschen, die sich im Internet unter erschwerten Bedingungen informieren müssen. Ein Button, mit dem sich der Text auf verschiedene Schriftgrößen setzen lässt, nutzt nicht nur Sehbehinderten, sondern auch Senioren. Einfache Sätze und der Verzicht auf Fremdwörter helfen geistig behinderten Menschen ebenso wie Personen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen – und selbst gestresste Manager finden sich auf Seiten, die mit wenigen Worten viel sagen, besser zurecht. „Wenn ich etwas im Internet suche, will ich nicht meinen Intellekt strapazieren, sondern zu einem Ergebnis kommen“, sagt Nickl. Barrierefreiheit ist damit nur eine weitere Stufe der Bestrebungen, die Nutzbarkeit von Internetangeboten zu vergrößern – und damit ein Muss für alle Internetseiten, die sich an eine breite Öffentlichkeit wenden.