Zweifel an den Richtgrößen
Zwar ist die Richtgröße kein Arzneimittelbudget pro Fall, sodass Patienten, die hohe Kosten verursachen, durch sogenannte Scheinverdünner, also Patienten, die keine Medikamente brauchen, wieder ausgeglichen werden. Hat ein Arzt aber wenige solcher Scheinverdünner und/oder viele schwer kranke und damit teure Patienten, überschreitet er schnell die Richtgröße. „So droht ihm selbst bei wirtschaftlicher Verordnung ein Regress“, erklärt Isabel Wildfeuer, Rechtsanwältin bei Ecovis. „Hinzu kommt, dass die Festlegung von Richtgrößen in jedem KV-Bereich unterschiedlich erfolgt, sodass für gleiche Fachgruppen bundesweit teilweise sehr unterschiedliche Richtgrößen bestehen können.“
Zweifel am Sinn der Richtgrößenprüfung ergeben sich auch bei der Frage, wann und wie die jeweiligen Richtgrößen den Ärzten bekannt gegeben werden und ob sie gegebenenfalls rückwirkend gelten. „Denn nicht alle KV-Bezirke halten sich an den Grundsatz, dass die Richtgrößenvereinbarung bis zum Ende des Vorjahres zustandekommt“, so Wildfeuer. Wird aber die Richtgröße beispielsweise erst im Sommer 2008 vereinbart, kann der Arzt sie bei seinen Verordnungen im Frühjahr 2008 zwangsläufig nicht beachten. Über die Rechtmäßigkeit einer Richtgrößenprüfung für das Jahr 2002 urteilte das Bundessozialgericht (BSG) Anfang dieses Jahres – mit negativer Entscheidung für die betroffenen Ärzte (B 6 KA 9/10 R). Das zuständige Sozialgericht hatte einen gegenüber dem beklagten Arzt ausgesprochenen Regress aufgehoben, weil es der Auffassung war, die Richtgrößenvereinbarung sei nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben worden und entfalte daher eine unzulässige Rückwirkung.
Die Urteilsbegründung
Das Landes- und auch das Bundessozialgericht teilten diese Auffassung jedoch nicht und erachteten die durchgeführte Richtgrößenprüfung für rechtmäßig. In einer Pressemitteilung wurde diese Entscheidung wie folgt begründet: Die Richtgrößenvereinbarung sei innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist zustande gekommen und hinreichend durch ein Rundschreiben vom 2.5.2002 bekannt gemacht worden. Sie habe auch in zulässiger Weise Rückwirkung entfaltet. Der Gesetzgeber habe selbst mit § 84 Abs. 6 SGB V und Art. 3a ABAG, wonach die Richtgrößen bis zum 31.3.2002 zu vereinbaren waren, die Entscheidung für eine zeitlich begrenzte Rückwirkung getroffen. Jeder Vertragsarzt habe danach mit einer Prüfung seiner Verordnungen nach Richtgrößen rechnen müssen. Auf die Notwendigkeit der Beachtung der Richtgrößen habe die beigeladene Kassenärztliche Vereinigung die Vertragsärzte schon im August 2001 hingewiesen. Der Umstand, dass im Jahr 2001 keine Prüfung nach Richtgrößen durchgeführt wurde, begründe kein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand dieses Zustands. Der Kläger sei durch die zum 1.1.2002 vereinbarten Richtgrößen bessergestellt, als wenn er nach den zuvor geltenden Richtgrößen geprüft worden wäre. Die Richtgrößen konnten auch noch im Mai 2002 und damit innerhalb der für die Festsetzung des Schiedsamts geltenden Frist vereinbart werden, so das Gericht.
Die ausführliche Urteilsbegründung des BSG liegt noch nicht vor. „Die in der Pressemitteilung bereits bekannt gewordene Argumentation überzeugt jedoch nicht“, sagt Ecovis-Rechtsanwältin Wildfeuer, „da die Ärzte verpflichtet werden, sich an Richtgrößen zu halten, die sie noch gar nicht kennen können.“ Es gibt daher bereits Überlegungen, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Wann werden Praxisbesonderheiten berücksichtigt?
Kann der Arzt die Überschreitung des Richtgrößenvolumens durch Praxisbesonderheiten begründen, darf kein Regress gegen ihn ausgesprochen werden. Was allerdings als Praxisbesonderheit anerkannt wird und was nicht, lässt sich pauschal nicht sagen, da die Prüfgremien hier unterschiedlich verfahren und der Begriff „Praxisbesonderheit“ bei Prüfungen des Richtgrößenvolumens noch nicht von einem Gericht definiert wurde. Grundsätzlich gilt jedoch: Jeder Umstand, der es dem Arzt auch bei wirtschaftlichem Verhalten unmöglich macht, die Richtgröße einzuhalten, kommt aber als eine solche Praxisbesonderheit in Betracht.
Fazit:
„Auch Ärzte, die über Jahre hinweg von Prüfverfahren verschont wurden, sollten das eigene Verordnungsverhalten sowie etwaige Praxisbesonderheiten stets im Blick haben und die Wirtschaftlichkeit ihrer Verordnungen kritisch hinterfragen“, mahnt Wildfeuer. Bei einer im Vergleich zum Fachgruppendurchschnitt ungewöhnlichen Praxisstruktur oder vielen teuren Patienten lässt sich die Einleitung eines Prüfverfahrens aber leider oft nicht vermeiden. „In diesen Fällen ist es von großer Bedeutung, frühzeitig die eigenen Praxisbesonderheiten zu analysieren und diese den Prüfstellen so konkret wie möglich mitzuteilen“, rät Wildfeuer.