Doch zurück zur Historie der staatlichen Erziehung zu Steuersündern: Bis 1993 zeigte der Fiskus wenig Eifer, Steuern auf Einkünfte aus Kapitalvermögen, insbesondere Zinserträge und Spekulationsgewinne aus Wertpapierverkäufen, einzutreiben. Im Gegenteil fiel er sich erklärtermaßen selbst in den Arm – mit dem so genannten Bankenerlass über „Ermittlungen bei Kreditinstituten“. Danach durften die Finanzämter von Banken und Sparkassen keine einmaligen oder periodischen Mitteilungen von Konten bestimmter Art oder Höhe verlangen. Auch Stichproben von Guthabenkonten und Depots während Betriebsprüfungen bei Kreditinstituten waren untersagt, ebenso entsprechende Kontrollmitteilungen. Die Begründung: Auf das Vertrauensverhältnis zwischen den Kreditinstituten und ihren Kunden sei „besondere Rücksicht zu nehmen“. Im Regelfall könne „davon ausgegangen werden, dass die Angaben in der Steuererklärung vollständig und richtig sind“.
Einen Quellensteuerabzug gab es aber nur bei der Körperschaft- und der Kapitalertragsteuer auf Dividenden. Hier lohnte sich für Steuerzahler in den unteren Progressionsstufen sogar, die Erträge in der Steuererklärung anzugeben, um im Anrechnungsverfahren zuviel gezahlte Steuern zurückzuholen. Bei Zinseinnahmen und Veräußerungsgewinnen innerhalb der Spekulationsfrist zahlte sich dagegen Verschweigen aus, weil die Finanzämter selten nachprüften. Die Ehrlichen waren also die Dummen.
Verfassungswidrige Praxis des Wegschauens
Deswegen zog ein ehrlicher Steuerzahler aus Baden-Württemberg schließlich vor das Bundesverfassungsgericht, weil er sich in seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung verletzt fühlte. Obwohl die Karlsruher Richter seine Verfassungsbeschwerde am 27. Juni 1991 in seinem Fall ablehnten, weil es keine Gleichheit im Unrecht geben könne, erklärten sie die bestehenden Regelungen wegen des Vollzugsdefizits für verfassungswidrig. Daraufhin führte der Gesetzgeber 1993 die Zinsabschlagsteuer ein, um auch die Zinserträge an der Quelle anzuzapfen.
Die Folge: Viele Bürger sahen nicht ein, dass sie auf die Ersparnisse, die sie von ihrem bereits versteuerten Arbeits- oder Unternehmereinkommen zurückgelegt hatten, „noch einmal Steuern zahlen“ sollten. Sie flohen daher mit dem Schwarzgeld, das sie im Vertrauen auf das Bankgeheimnis – sprich: die Kumpanei des Staates –angesammelt hatten, in benachbarte Steueroasen wie Luxemburg und die Schweiz. Deutsche Banken halfen dabei mit getarnten Überweisungen an ihre dortigen Töchter tatkräftig mit, wie sich bei groß angelegten Steuerrazzien Mitte der 90er Jahre herausstellte. Auch öffentliche Institute, also Landesbanken und Sparkassen, waren mit von der Partie, für Ecovis-Vorstand Rüchardt „ein weiterer Beleg für die staatliche Doppelmoral“.
Undurchsichtiges Steuersystem unterminiert die Steuermoral
„Die harte Haltung der Fahnder hat Banken und Anleger verunsichert; ob sie die weitere Steuerflucht beendet, ist mehr als fraglich“, prophezeite damals der „Spiegel“. Denn: „Gegen die sinkende Steuermoral hilft nur ein gerechtes Steuersystem ... mit niedrigen Sätzen und einem rigorosen Abbau aller Steuervergünstigungen“. Diese Analyse ist, so Ferdinand Rüchardt, „leider immer noch aktuell“. Denn durch die ständigen Änderungen, oft faulen Kompromissen zwischen Klientelpolitik und Etatrücksichten, ist das Steuerrecht inzwischen noch komplizierter, undurchschaubarer und weniger verlässlich geworden.
„Natürlich hat der Fiskus das Recht, die Steuergesetze anzuwenden, und wenn sie noch so schlecht gestrickt sind“, sagt Professor Lüdemann. Für „überzogen und unfair“ hält er es jedoch, „wenn der Staat Bürgern, denen er bestimmte Steuersünden ein halbes Leben lang oder länger nachgesehen hat, jetzt mit gnadenloser Strafverfolgung droht“. Unter den 16.000 Selbstanzeigern der vergangenen Monate sind nämlich viele Ältere – und beileibe nicht nur Großverdiener: Bei Steuermehreinnahmen von einer Milliarde Euro beträgt die durchschnittliche Nachzahlung rund 60.000 Euro, nicht so viel für mehrere Jahre.
Steuerehrlichkeit: die Bringschuld der Politik
„Vielleicht sollten es die Politiker mal selbst mit mehr Ehrlichkeit probieren und das Vertrauen der Bürger dadurch verdienen, dass sie endlich die Probleme ernsthaft anpacken, deren Lösung für die Zukunft des Landes entscheidend sind, zum Beispiel in der Bildungspolitik“, meint Ferdinand Rüchardt. „Es ist immer noch der Staat, der sich rechtfertigen sollte, warum er wie viel Geld benötigt und was er damit macht, und nicht umgekehrt“, ergänzt Peter Lüdemann.
Wie Schweizer Studien zeigen, hängt die Steuerehrlichkeit in der Tat stark von dem Vertrauen ab, das die Bürger den staatlichen Organen entgegenbringen, und dieses wiederum von ihren Mitwirkungsmöglichkeiten. „So gesehen, wäre es am besten, den Kommunen, die von Bund und Ländern immer mehr Aufgaben aufgedrückt bekommen und bei ihren Investitionen am staatlichen Zuschusstropf hängen, einen höheren Anteil am Einkommen- und Körperschaftsteuer zu geben“, schlägt Professor Lüdemann vor. „Denn vor Ort sehen die Steuerzahler, was mit ihrem Geld geschieht, und sie können über Bürgerbegehren und Bürgerentscheide mitbestimmen.“