Herr Prof. Stuchtey, Sie haben im Auftrag der Circular Economy Initiative die Studie der „Circular Economy Roadmap für Deutschland“ durchgeführt. Wie kam es dazu?
Prof. Stuchtey: 2017 haben wir gesagt, dass die Circular Economy für eine Industriegesellschaft wie Deutschland eine riesengroße Chance, eine attraktive Perspektive und ein realistisches Zielbild ist. Gemeinsam mit der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften haben wir in diesem Bereich eine Deutungs- und eine Unterstützungslücke identifiziert, insbesondere auf Seiten der Industrie. Diese Lücke wollten wir im Schulterschluss mit der Bundesregierung, der Wissenschaft und gemeinsam mit Unternehmen schließen. Wir haben uns auf die Reise begeben und sind dieses Jahr mit der Vorlage der „Circular Economy Roadmap für Deutschland“ und der Präsentation gegenüber dem Bundesforschungsministerium sowie später auch vor dem Bundeswirtschaftsministerium zum vorläufigen Höhepunkt gelangt.
Die Roadmap basiert auf den Erkenntnissen von drei interdisziplinären und branchenübergreifenden Teams. Mit welchen Themenfeldern haben sich diese beschäftigt?
Prof. Stuchtey: Die Vertiefungsthemen sind: Neue Geschäftsmodelle, Traktionsbatterien und Verpackungen – repräsentative Beispiele für die Veränderung, die wir in der gesamten Volkswirtschaft sehen müssen.
Im Bereich „Neue Geschäftsmodelle“ geht es um die Frage, ob der Sprung von einer Produktökonomie zu einer Leistungsökonomie machbar ist. Damit steht nicht der materielle Wohlstand, sondern die Erfüllung von Nutzenbedürfnissen im Fokus. Deutschland könnte sich so vom Ressourcenbedarf entkoppeln.
Die Traktionsbatterie ist die Batterie, die wir zukünftig in die wachsenden Flotten von Elektroautos einbauen werden. Bezüglich der Kosten, der Leistungsfähigkeit des Aggregats Auto und des Ressourcenbedarfs besteht eine enorme Relevanz für die künftige Mobilitätswelt und auch die zukünftige deutsche Industrie. Wenn wir das Problem der Batterie nicht lösen, gelingt uns die Energiewende nicht. Dann wird es uns auch nicht gelingen, aus der alten Automobilindustrie eine neue Mobilitätsindustrie zu machen. Wir zeigen auf, dass eine Kreislaufführung und ein schonender Umgang mit Ressourcen hier nicht das Problem, sondern eine interessante Perspektive sind.
Im großen Feld der Verpackungen verdeutlichen wir, dass Alternativen für Alltagsprodukte geschaffen werden müssen. Es gibt interessante Möglichkeiten, Stoffe im Kreislauf zu führen. Wir zeigen, was wir eigentlich in den nächsten Jahren machen müssten, um aus einer Welt herauszukommen, in der wir einen Großteil unserer Verpackungen verbrennen. Das können wir uns angesichts des Klimawandels nicht dauerhaft erlauben.
Was waren die zentralen Ergebnisse im Bereich „Verpackungen“? Was hat Sie dort am meisten überrascht?
Prof. Stuchtey: Sogar Deutschland recycelt nur ungefähr 20 Prozent des Verpackungsmaterials. Ein großer Teil wird entweder verbrannt oder exportiert. Weltweit ist diese Recyclingrate noch viel geringer. Wenn wir die Plastikindustrie nicht in Richtung zirkularer Wertschöpfung umbauen, wird sie bis zum Ende des Jahrhunderts über 330 GT Emission generieren. Das wäre das ganze uns verbleibende Emissionsbudget der Menschheit, um auf einem Emissionspfad von 1,5 Grad Erwärmung zu bleiben. Für ein Zielszenario müssen wir massiv daran arbeiten, unsere Recyclingkapazitäten hochzufahren.
Die Kunststoffverpackung der Zukunft ist eine Verpackung, die es als solche gar nicht gibt. Neue Darbietungsformen wie zum Beispiel Dispenser oder Refilling-Lösungen werden es ermöglichen, vollkommen ohne Einwegverpackungen auszukommen.
Auch das vom NRW-Wirtschaftsministerium geförderte Projekt Prosperkolleg sowie die im Auftrag des NRW-Umweltministeriums tätige Effizienz-Agentur NRW haben sich im Rahmen einer Fachworkshop-Reihe mit Lebensmittelverpackungen beschäftigt. Herr Alscher, was waren denn dort die zentralen Ansätze im Bereich Verpackungen?
Alscher: Wir wollten erfahren, wie das Thema nachhaltige Verpackungen aktuell in der Lebensmittelbranche gesehen wird, und haben uns gemeinsam mit den Beteiligten Gedanken gemacht, wie man Verpackung gesamtheitlich überdenken kann. Dazu haben wir einen wertschöpfungskettenübergreifenden Ansatz gewählt und eine Fachworkshop-Reihe konzipiert, die im September 2020 gestartet ist. Mit Betrieben aus unterschiedlichen Bereichen – wie beispielsweise Verpackungsherstellung, Anlagenbau, Lebensmittelverarbeitung und der Recyclingbranche – haben wir gemeinsam die Hauptherausforderungen identifiziert, um darauf aufbauend gemeinsam Branchenlösungen zu entwickeln.
Welche Hauptprobleme wurden in der Fachworkshop-Reihe identifiziert?
Alscher: Durch Gespräche mit den produzierenden Unternehmen hat sich herauskristallisiert, dass es vor allem an Indikatoren zur Einordnung von nachhaltigen Verpackungsmaterialien fehlt. Gemeinsam haben wir einen Kriterienkatalog zur Bewertung von mehreren Verpackungssystemen auf qualitativer und quantitativer Ebene entwickelt und diesen auch schon anhand mehrerer Beispiele erprobt. Im Kern haben wir uns auf fünf Hauptindikatoren-Gruppen geeinigt: Produktschutz, Zirkularität, Umwelt, Anlagenauslastungen und Kommunikation. Diese Gruppen werden dann in Summe mit 32 Indikatoren durchgeprüft.
Herr Prof. Stuchtey, inwieweit wäre eine solche Bewertungsmatrix denn hilfreich für Ihr Netzwerk?
Prof. Stuchtey: Es ist wichtig, auf allen Ebenen klare Entscheidungskriterien miteinzubeziehen. Wie müssen Verpackungslösungen aussehen, die zukünftig im Rahmen der Anforderungen des „Circular Economy Action Plan“ und des „Single-use plastic directive“ liegen? Was sind die Anforderungen an den Handel und an die Entsorgung? Wir können es uns nicht erlauben, zehn Jahre darüber zu streiten, wer die bessere Metriken hat. Es ist immer hilfreich, wenn sich Wertschöpfungsketten zusammenfinden und sich einig sind. Das ist genau das, was das Prosperkolleg und die Effizienz-Agentur NRW machen. Auch die Politik muss dort helfen.
Herr Alscher, wo können sich interessierte Betriebe melden, um die Bewertungsmatrix zu nutzen?
Alscher: Dazu kann man sich an das Prosperkolleg (prosperkolleg@emscher-lippe.de) oder an die Effizienz-Agentur NRW (efa@efanrw.de) wenden. Wir bieten Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen gerne an, die Matrix gemeinsam mit uns durchzuarbeiten, und stellen die Informationen im Nachgang kostenfrei zur Verfügung. Aktuelle Beispiele, bei denen wir die Bewertungskriterien angewandt haben, sind Joghurtbecher, Fruchtverpackungen – zum Beispiel bei Erdbeeren –, Tiefkühlwaren, aber auch andere Artikel aus dem Bereich der FMCG (Fast-Moving-Consumer-Goods).
Eine letzte Frage an Sie, Herr Prof. Stuchtey: Was ist ihr Appell an Unternehmen?
Prof. Stuchtey: Heute werden Verpackungen als notwendiges Übel gesehen, die möglichst wenig Geld kosten sollen. Die Verpackung ist jedoch ein Element einer gesamthaften Kundenerfahrung. Wenn Unternehmen gegenüber Kund*innen und der Gesellschaft einen Nachweis erbringen können, dass ihr Produkt nach einem Nutzungszyklus nicht den unangenehmen Nachgeschmack umwelt- oder klimabelastender Verpackungen hat, dann wertet das das Produkt auf und bindet die Kunden. Insbesondere, wenn wir Einmalverpackungen zunehmend durch „New delivery models“ ersetzen. Ich glaube, ein Perspektivwechsel ist notwendig – nicht nur bei Verpackungen, sondern überall. Der Sprung von dem Abverkauf von Produkten hin zum Angebot von integrierten ressourcenarmen Lösungen ist der vielleicht einzige Weg, erfolgreich im Zeitalter von Ressourcen- und Klimaschutz zu sein.