Herr Dr. Frantz, in Krisenzeiten beschleunigt sich der Wandel, allem voran die Digitalisierung. Viele Unternehmen stehen unter Zugzwang. Gibt es ein Patentrezept für die digitale Transformation?
Mag sein, dass Corona die Dynamik verstärkt. Aber die Zeichen stehen schon lange auf Automatisierung, Digitalisierung und Verschlankung. Häufig gibt es jedoch gewachsene, in die Jahre gekommene Systeme, die dem entgegenstehen bzw. Anpassungen an neue Anforderungen erschweren. Das wissen die Unternehmen auch. Die Frage ist nur, wie konsequent sie sich dieser Herausforderung stellen und wann sie sich auf den Weg machen wollen. Im Tagesgeschäft und angesichts kurzfristiger Ziele geht nämlich der Blick für Weichenstellungen, die in die Zukunft führen, schnell verloren. Gut, wenn man dann dafür jemanden an Bord hat, der aufzeigt, in welche Richtung es gehen muss und welche Schritte in welcher Reihenfolge notwendig und sinnvoll sind. Fachlich wie technologisch, aber eben auch organisatorisch. Denn so viel kann ich sagen: Ein Patentrezept gibt es nicht, eine Transformation ist von vorne bis hinten Maßarbeit.
Hört sich an, als steht dabei unter Umständen die gesamte Prozesslandschaft im Unternehmen auf dem Prüfstand. Wie lange dauert denn ein erfolgreiches Digitalisierungsprojekt und was sind die Voraussetzungen dafür?
Je nach Unternehmensgröße und Aufgabenstellung in der Regel mehrere Monate, meist sogar länger. Die Einflüsse auf den Erfolg sind dabei höchst unterschiedlich. Einer unserer Kunden aus der Fertigungsindustrie etwa wollte seine Lagerorganisation grundlegend optimieren, aber nach den ersten Gesprächen wurde schnell klar, dass es im Unternehmen etliche, teilweise miteinander verzahnte Herausforderungen gab, denen ganz maßgeblich ein gewachsenes, monolithisches System im Wege stand. Insbesondere eine saubere Schnittstelle zur Integration externer Systeme war dabei z.B. überhaupt nicht vorgesehen. Darauf im konkreten Fall die Lagerorganisation neu zu gründen, hätte etliche Verrenkungen bedeutet und im Ergebnis mehr Probleme geschaffen, als dass es konkreten Nutzen gebracht hätte. Wir haben daher gemeinsam mit dem Kunden in wenigen Wochen zunächst einmal die wesentlichen fachlichen Abläufe analysiert, Pain Points identifiziert sowie die IT-Lösungsarchitektur, die stark monolithischen Charakter hatte und daneben aus vielen kleinen Speziallösungen bestand, evaluiert. Basierend darauf haben wir eine Architekturlösung vorgeschlagen, die wir anhand verschiedener Kriterien validiert haben. Die Transformation des Monolithen hin zu einer nachrichtenbasierten, erweiterbaren Architektur erfolgte dann innerhalb weniger Monate – und zwar parallel zum laufenden Betrieb. In der Folge haben wir dann bis heute gemeinsam mit dem Kunden basierend auf der neuen Architektur unterschiedliche Vorhaben wie z.B. eine neue Lagerorganisation auf den Weg gebracht und erfolgreich eingeführt. Ein guter Teil der Zeit ging jedoch tatsächlich zunächst einmal in den Abbau technischer Schulden und in das Fitmachen der IT-Lösungsarchitektur für die aktuellen Herausforderungen.
Warum dauert eine Transformation so lange, was sind aus Ihrer Sicht die größten Hürden?
Geschäftsprozesse erstrecken sich häufig über unterschiedliche Unternehmensbereiche, die teilweise konträre bzw. nicht deckungsgleiche Ziele haben. Etablierte Lösungen fokussieren entsprechend eher auf spezielle, bereichsabhängige Aspekte und es werden teilweise siloartige Lösungen entwickelt, die schlecht miteinander harmonieren. Das Geschäft entwickelt sich dynamisch weiter und verlangt eigentlich nach neuen Lösungen, andererseits darf das Tagesgeschäft nicht leiden. Verständlicherweise geht es manchmal auch einfach darum, den bisherigen Invest zu sichern, obwohl es von außen betrachtet kostengünstiger und schneller gewesen wäre, bestimmte Fragestellungen neu bzw. anders zu lösen. Häufig fehlt zudem eine klare unternehmensweite IT-Strategie. In so einer Lage kann sich ein Unternehmen zunehmend verzetteln und man verstolpert sich in wachsenden technischen Schulden, die Lösungen deutlich aufwendiger als gedacht machen. Deshalb empfiehlt sich aus unserer Sicht eine evolutionär-geprägte agile Vorgehensweise, welche wir auch bei unserem Kunden angewandt haben: Eine schrittweise Transformation gepaart mit einer stetigen Überprüfung, die jeweils den größten Nutzen bringt bzw. aufzeigt, ob man auf dem richtigen Weg ist und ggf. die Möglichkeit zur Korrektur bietet.
In der Praxis ist eine digitale Transformation also hochkomplex. Sind denn Lösungen zumindest nach dem Aufräumen und Transformieren problemlos zu erweitern und zu verändern bzw. was muss man dafür tun?
Wenn man es richtigmacht, ja! Die Problemstellungen, die gelöst werden müssen, werden mit der Zeit naturgemäß komplexer und neue Geschäftsfelder tun sich auf. Entsprechend (ver)wachsen auch Lösungen mit der Zeit. Daher sollte die gesamte Lösungsarchitektur kontinuierlich auf dem Prüfstand stehen – welche Fragestellungen gilt es zu adressieren, gibt es Redundanzen, gibt es technische Schulden bzw. Abhängigkeiten bei den Lösungen, die Erweiterungen risikoreich bzw. aufwendig machen, gibt es Flaschenhalse, wie verteilt arbeitet die Organisation, werden gesetzliche Regularien beachtet, welche Systeme sind abgekündigt usw. Verschleppt man das, stauen sich Änderungsbedarfe so auf, dass die Anpassungen von Lösungen an neue Anforderungen immer aufwendiger und teurer werden. Wenn man aber eine klare IT-Strategie verfolgt und insbesondere auch den Mut dafür aufbringt, mal einen anfangs scheinbar unbequemen Weg zu gehen, ist das am Ende dienlicher für das Unternehmen. Unabdingbar sind daneben ein effektives Change-Management, eine maßvolle Teststrategie, eine solide, gut zu wartende Infrastruktur mit automatisierten Roll-Out-Mechanismen sowie ein effektives Monitoring, um Funktionalität und Operabilität sicherzustellen.
Nehmen wir an, eine bestehende Kundenlösung erzeugt einen sehr hohen Aufwand bei der Dokumentenpflege und erlaubt nur eine eingeschränkte Nachverfolgbarkeit von Änderungen an Dokumenten. Dokumente müssen zur Freigabe umständlich an E-Mail-Verteiler verschickt werden etc. Wie könnte man da vorgehen?
Das ist tatsächlich ein Szenario, das wir bei verschiedenen Kunden so erlebt haben. Häufig sind die Lösungen mit der Zeit einfach gewachsen, wie im genannten Beispiel bei der Verwaltung von Dokumenten. Bei unserem Kunden aus der Fertigungsindustrie ging es etwa am Anfang „nur“ um die Speicherung von Dokumenten einer festen Version zusammen mit ein paar, das Dokument beschreibenden Metadaten - eine einfache Dateiablage-basierte Lösung wurde geschaffen, die sukzessive ausgebaut wurde. Irgendwann musste jede fachliche Erweiterung an verschiedenen Stellen mehrfach und unterschiedlich umgesetzt werden. Der Umsetzungsaufwand dafür wurde immens, die Dokumentenverwaltung aus Anwendersicht insgesamt sehr fragil. Wir haben daher die Anforderungen gemeinsam mit den Anwendern analysiert und dabei immer auch mit über den Tellerrand geschaut. Das war manchmal mühsam, weil eher in der aktuellen Lösung gedacht wurde als in dem eigentlichen fachlichen Bedarf, deckte aber auch weitere Potenziale auf wie z.B. die Optimierung von Bestellfreigaben, Rechnungsbearbeitung usw. Wir haben dann eine Lösungshypothese auf Basis eines Standard-Dokumentenmanagementsystems (DMS) konstruiert. Die Frage ist dabei, wie gut die auf dem Markt üblichen Systeme die Szenarien des Kunden abdecken bzw. sich darauf anpassen lassen und nicht etwa, wie gut ein Dienstleister mit einem speziellen Produkt umgehen kann. Insofern ist Neutralität und Herstellerunabhängigkeit bei der Lösungsauswahl ganz entscheidend. Anhand von priorisierten Use Cases sowie verschiedenen nichtfunktionalen Anforderungen haben wir über ein strukturiertes Auswahlverfahren die vielversprechendsten Kandidaten herausgefiltert und in Miniworkshops zusammen mit Key Usern unter die Lupe genommen. Die am besten geeignete Lösung wurde noch einmal anhand einzelner Durchstiche evaluiert. Wenn man sich dann für eine Lösung entschieden hat, ist die richtige Einführungsstrategie ganz entscheidend für den Erfolg. Ein Big-Bang-Ansatz mit der Maßgabe, alles gleich richtig zu machen, überfordert schnell eine Organisation und führt unter Umständen erst sehr spät zu konkretem Nutzen. Bei unserem Kunden in der Fertigungsindustrie sind wir daher schrittweise vorgegangen und haben uns in wenigen Sprints neben den Basisintegrationsarbeiten zunächst einmal auf die am höchsten priorisierte Verwaltung von Artikeldokumenten konzentriert. Später haben wir weitere Bereiche in Angriff genommen wie z.B. Bestellprozesse, Smart Invoicing usw. So wurde einerseits relativ schnell Wert geschaffen, andererseits konnte die Lösung organisch wachsen und wir konnten aus der Umsetzung der ersten Use Cases lernen.
Offenbar ein sehr umfangreiches Unterfangen. Können Sie uns noch ein weiteres Beispiel aus der Praxis geben?
Gerne. Unser Kunde hatte z.B. daneben das Problem, dass die Produktion ungleichmäßig ausgelastet war und der jeweilige Produktionsstatus nicht transparent war. Das führte dazu, dass Produktionsaufträge generell eher zu spät gestartet wurden und eigentlich dringende Artikel aufgrund von Kapazitätsengpässen verzögert produziert wurden. Um dies zu verbessern, hatte der Kunde schon seit einiger Zeit ein Produktionsplanungs- und -steuerungssystem (PPS) im Einsatz. Dies diente jedoch primär zur Analyse und zur Simulation. Der genaue artikelspezifische Ablauf zur Produktionsvorbereitung und -durchführung war dabei nur unzureichend im System abgebildet, so dass die Planung weiter ziemliche Unschärfen aufwies und die Auslastung zwar etwas besser, aber immer noch sehr inhomogen war – mit den beschriebenen Auswirkungen. Wir haben daher die wesentlichen Abläufe und Ereignisse im Produktionsablauf modelliert und das System entsprechend erweitert. Die aus der Produktion gewonnenen Daten werden dabei permanent an das PPS übermittelt und dieses steuert wiederum anhand der Daten Produktionsaufträge automatisiert ein – so entsteht ein Kreislauf. Ermöglicht wurde das wiederum erst durch die technische Basis, die anfangs geschaffen wurde und eine ereignisbasierte Integration externer Systeme ermöglichte. Bei der Einführung sind wir erneut schrittweise vorgegangen und haben zudem beide Lösungen eine Zeit lang parallel betrieben, um Erfahrungen zu sammeln, die Neuerungen besser bewerten zu können und gezielt Optimierungen vornehmen zu können. In der Summe führte der etablierte Kreislauf zu einem deutlich besseren Produktionsablauf.
Was qualifiziert einen IT-Dienstleister wie die evodion IT als wertvollen Partner auf dem Weg zur Digitalisierung?
Das Know-how in allen wichtigen IT-Technologien und die Expertise für agile Methodiken müssen einfach vorausgesetzt sein. Entscheidend ist am Ende ein enges Teamwork sowie das tiefe Verständnis der Geschäftsprozesse auf Kundenseite. Und die sind je nach Branche und Unternehmensart sehr spezifisch. Hier kommen uns unsere langjährigen Erfahrungen mit Unternehmen unterschiedlicher Branchen, vom Logistiker über den Finanzdienstleister, die Behörde bis zum industriell geprägten Zulieferer, sowie die hohe Qualifikation unserer unternehmerisch denkenden IT-Berater und -Entwickler zugute. Wir beraten unabhängig, sehen das große Ganze und denken in Zusammenhängen. So konzipieren und entwickeln wir partnerschaftlich mit unseren Kunden praktikable Lösungen mit einem klaren kurzfristigen wie langfristigen Nutzen.
Autor
Dr. Sönke Frantz
soenke.frantz@evodion.de