„Da liegt es doch näher, den modernen Schlafwagen zu nehmen. Der bringt mich in 12 Stunden über Nacht für 512 RMB ans Ziel – in der ersten Klasse“, dachte sich der China-Experte Karlheinz Zuerl, Mitglied bei der UNO-Denkfabrik Diplomatic Council und Autor der Fachbücher „Management in China“ und „Effective Cost Cutting in Asia“. Doch er sollte eine Überraschung erleben. Hier erzählt er von seinem Erlebnis.
„Nach dem Meeting bringt mich Justins Chauffeurin mit dem Firmenauto zum Bahnhof. Von dort aus soll es mit dem Schlafwagen nach Beijing zur „China International Machine Tool Show“ gehen. Fahrtdauer 12 Stunden. Ankunft morgen früh um 9.24 Uhr.
Mein letztes Mal in einem chinesischen Schlafwagen ist ca. 30 Jahre her. 1993 fuhr ich mit der dritten Klasse von Beijing nach Hefei, Dauer 16 Stunden. Geplant war eine komfortable Fahrt in der zweiten Klasse. Das Missverständnis kam aber so zustande: Damals durften Ausländer selbst keine Tickets kaufen. Meine Käuferin war keine geringere als die Frau des Kultusministers der Anhui-Province, wo ich hinfahren wollte. Der Ticket-Umtausch kostete Geld, das ich ihr nicht geben konnte, da ich es nicht wusste. Also buchte sie vom verfügbaren Geld eine Klasse niedriger.
In dieser niedrigsten Klasse traf ich viele Reisende mit schnatternden Enten und anderen lebenden Tieren. Die meisten Fahrgäste hatten noch nie einen Ausländer gesehen. Ich war die Attraktion im Zug.
Alle kamen zu mir, betasteten mein Gesicht mit der großen Nase – ob die wohl echt war? Jetzt konnte ich mein Chinesisch gut gebrauchen, niemand sprach Englisch. An Schlaf war nicht zu denken, denn ich hörte das Rattern und Pfeifen des Zuges. Ich lag mit fünf anderen Männern im Abteil, die alle schnarchten. Jede Station ein Kommen und Gehen. Wie damals in Deutschland auch, sah man auf der Toilette beim Öffnen der Klappe die Bahnschwellen vorbeisausen.
Aus dieser Erfahrung heraus buchte ich jetzt die erste Klasse, um mich erholen zu können, und erlebte wieder eine Überraschung.
Wie damals kommt man auch heute nur mit dem grünen Ticket zum Bahngleis. Im Vergleich: zum Hochgeschwindigkeitszug nur mit gescanntem Reisepass. Ein Ticket wird hier nicht mehr benötigt, da der Sitzplatz bereits auf der 12306-App ersichtlich ist.
Der D-Zug hat eine Schnellzug-Schnauze mit gutem Cw-Wert und spart somit Energie. Innen kein Stahl mehr. Die Wände sind mit Holzfurnier dekoriert, was angenehm beruhigt. Ich schlafe mit drei Männern und einer Frau mit Kind im Abteil. Aber wie komme ich hoch in mein Bett?
Ein Mann zeigt mir die kleine Klappe für einen Fuß. Klettersteig-erprobt schwinge ich mich in einem Schwung nach oben. Dort ist es ziemlich eng. Maximal 60cm breit und 2m lang schlafe ich mit meinem Gepäck, einem Rucksack und dem kleinen Reisekoffer. Die Frau mit Kind hat das Bett unter mir. Sie schläft, wie die meisten Chinesen, auf dem Rücken. Das Kind passt sich ohne Murren an.
Irgendwann wird zentral das Licht ausgeschaltet. Ich habe Augenschutz und Ohrenstöpsel dabei. Die Handys der anderen erleuchten den Raum weiterhin.
Der Wagen ist super nach außen isoliert, ich höre fast nichts. Doch zu meiner Überraschung fangen alle drei Erwachsenen irgendwann das Schnarchen an und zersägen einen ganzen Wald. Ab und zu wird der Sägemotor mit einem lauten Seufzer abgewürgt, doch bald geht es im Canon weiter. Die deutschen Wachsstöpsel helfen nicht.
Die Temperatur im maximal 1.5m breiten und 2m langen Abteil steigt langsam an. Kurz vor dem Schwitzen schaltet sich eine Klimaanlage ein. Unter dem Dach bläst mir nun sibirische Kälte entgegen. An Schlafen ist nicht mehr zu denken, auch wenn ich meinen Kopf zur Wand drehe. Die Klimaanlage läuft bis in den Morgen.
Was sich im Gegensatz zu früher drastisch verbessert hat, ist die vorbildliche Sauberkeit auf der Toiletten und Waschbecken im Zug. Hier sind einige Mainzelmännchen am Werk.
Als die Zentrale wieder das Licht einschaltet, kommen Kinder gesprungen. Sie reißen die Tür auf, singen und tanzen. Für sie ist die Fahrt ein Erlebnis. Aus ihren Armbanduhren ertönen chinesische Lieder zum Mitsingen.
Hundsmüde komme ich in Beijing an.
Im Nachhinein hätte ich lieber den Schnellzug um 7 Uhr morgens genommen, wäre ausgeschlafen bereits um 11.36 Uhr in Beijing-Süd angekommen und schon am frühen Nachmittag auf der Messe. Im Zug hätte ich genug Platz gehabt, um am Laptop arbeiten zu können. Steckdosen für Strom hätte es auch gegeben. Allerdings sind diese frühen flotten Züge schnell ausgebucht.“
Karlheinz Zuerl gehört zu den profiliertesten Beratern und Interim Managern für Geschäftsführung, Produktion, Einkauf und Marktbearbeitung in Asien. Er lebt seit über 14 Jahren in China, kennt daher die Gepflogenheiten im Land wie kaum ein anderer deutscher Manager.
Wer weitere seiner interkulturellen Geschichten aus dem Reich der Mitte lesen oder veröffentlichen möchte, oder über einen möglichen Auftrag im Interim Management oder Beratung in Asien mit ihm sprechen möchte, meldet sich einfach bei ihm.