"Unsere Unternehmen engagieren sich verstärkt in der Ausbildung und ziehen den Nachwuchs für den eigenen Betrieb selbst heran", erklärt Handwerkskammer-Präsident Rainer Reichhold. Aber auf viele Stellen finde sich gar kein Bewerber. "Es zeigt sich deutlich, dass der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften ein Riesenproblem ist. Die Suche allein bindet schon erhebliche Ressourcen in den meist kleinen Handwerksbetrieben und eine unbesetzte Stelle belastet ganz empfindlich die Wettbewerbssituation", so Reichhold. Besonders bedenklich sei, dass es etwa 20 Prozent der Bewerber auf eine Lehrstelle an der notwendigen Ausbildungsreife mangele.
Auch die Mitgliedsbetriebe der IHK bekommen den Mangel an Bewerbern deutlich zu spüren. Laut einer aktuellen Umfrage wollen fast 90 Prozent der IHK-Ausbildungsbetriebe in der Region Stuttgart die Zahl der angebotenen Lehrstellen in diesem Jahr beibehalten oder sogar erhöhen. Aber in der IHK-Lehrstellenbörse gibt es zurzeit noch mehr als 2.000 freie Ausbildungsplätze, die bis zum Spätsommer zu besetzen wären. "Vermutlich werden in diesem Jahr mehr Lehrstellen als die Jahre zuvor unbesetzt bleiben", sagt IHK-Präsident Dr. Herbert Müller. Ausbildungshemmnis Nummer eins sei bei den IHK-Ausbildungsbetrieben die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger.
Um der mangelnden Ausbildungsreife der Bewerber zu begegnen, begrüßte die Handwerkskammer grundsätzlich die schulpolitischen Vorhaben der neuen Landesregierung. Vor allem müsse es jetzt darum gehen, eine neue Schulkultur zu etablieren, die sich an den Potenzialen jedes einzelnen jungen Menschen orientiert. Darüber hinaus sei es notwendig, Schüler schon frühzeitig bei der Berufsorientierung und der späteren Berufswahl zu unterstützen. "Hier hätten wir uns im Koalitionsvertrag konkrete Inhalte gewünscht, wie Berufsschulen und Bildungsakademien des Handwerks in ihrem Bildungsauftrag unterstützt werden können, um sowohl leistungsstarke Schüler zu binden als auch leistungsschwächere Schüler die nötige Unterstützung zu gewähren", erklärt Reichhold. Der Bildungsaufbruch dürfe sich nicht nur in der Schulpolitik zeigen, sondern müsse in der beruflichen Bildung fortgesetzt werden, um erfolgreich zu sein.
Mit großer Skepsis sieht die IHK den von der Landesregierung vorgesehenen grundlegenden Umbau des Schulwesens. "Besonders schmerzt uns das Aus für die Werkrealschule", kommentiert IHK-Präsident Dr. Herbert Müller den Koalitionsvertrag. "Ihr Trumpf war die vorgesehene Auslagerung des Unterrichts an zwei Tagen im zehnten Schuljahr in die beruflichen Schulen, weil dadurch Berufsorientierung und Nähe zur dualen Ausbildung erreicht worden wären", so Dr. Müller. Zu befürchten sei nun, dass der Trend zu längerer schulischer Bildung, zu Abitur und Studium weiter zunimmt, das Interesse an einer berufliche Ausbildung aber nachlässt.
IHK und Handwerkskammer beurteilen die erklärte Absicht der Landesregierung äußerst kritisch, berufliche Schulen zu regionalen Kompetenzzentren für berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung zu entwickeln, teilschulische und schulische Ausbildungszeiten durch die Kammern anerkennen zu lassen, für Berufskollegs die Kammerprüfung einzuführen und bei einem unzureichenden Ausbildungsplatzangebot subsidiäre Ausbildungsgänge mit Kammerprüfung zu schaffen. Für die Wirtschaftskammern birgt eine solche Entwicklung die Gefahr, dass sich Unternehmen aus der dualen Ausbildung mit dem Hinweis auf die Angebote im schulischen Bereich zurückziehen.