Allein im Handwerk in der Region fehlen Tausende von Fachkräften. In rund 10.000 Handwerksbetrieben gehen die Chefs in den nächsten fünf Jahren in den Ruhestand, viele suchen nach einer Nachfolgelösung. Deshalb brauche das Handwerk dringend Azubis und qualifiziertes Personal sowie Fachleute, die unternehmerisch denken und sich selbstständig machen können und wollen. „Sonst wird der Fachkräftemangel zum größten Wachstumsrisiko unserer Wirtschaft und kann als Transformationsbremse die Zukunft unsers Landes beschädigen. Wer soll denn künftig Häuser energieeffizient bauen und sanieren, Heizungen austauschen, Smart Homes verkabeln und Ladesäulen oder Solarpanels installieren?“, sagte Reichhold im Forum der Kammer. „Bei den Lieferketten werden sich neue Lösungen finden, aber den Fachkräftemangel müssen wir selbst lösen. Das geht nur, wenn allen mitanpacken, junge Menschen für eine Zukunft im Handwerk zu begeistern und wir ausreichend ausbildungswillige und ausbildungsfähige Bewerberinnen und Bewerber für eine handwerkliche Ausbildung finden.“
Die Ausbildungssituation aus Sicht der Agentur für Arbeit erläuterte dem Gremium Christian Rauch, Leiter der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit. „In den letzten Jahren haben digitales Lernen und fehlende Berufsorientierung durch den Ausfall von Praktika und Bildungsmessen eine stille Reserve an Jugendlichen produziert, die lieber weiterführende Schulen besucht oder gejobbt haben, statt eine Ausbildung zu beginnen. Sie sollten sich jetzt, wo ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt so gut stehen, für einen Beruf entscheiden. Auch Studienabbrecher können sich mit einer Ausbildung eine berufliche Chance sichern. Außerdem aber sollten sich Unternehmen und Betriebe überlegen, auch denjenigen, die die formalen Voraussetzungen nicht von Anfang an erfüllen, eine Chance zu geben und sie auf dem Weg dahin zu unterstützen.“
Die vom Handwerk geforderte Bildungswende solle sich in mehr materieller und ideeller Wertschätzung für die berufliche Bildung äußern. Reichhold wies darauf hin, dass eine zusätzliche Entlastung für Ausbildungsbetriebe, Anreize für Auszubildende sowie Investitionen in moderne Berufsbildungsstätten wichtige Stellschrauben seien, um die Fachkräfteversorgung zu sichern. Als richtiges Signal bewerte das Handwerk in dem Zusammenhang das aktuelle ESF-Förderprogramm des Wirtschaftsministeriums „Ausbildungsbereitschaft stärken REACT-EU“, das kleine Unternehmen bei der betrieblichen Ausbildung mit 3.500 Euro unterstütze. Damit solle kleinen Betrieben mit bis zu neun Mitarbeitenden geholfen werden, trotz der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise weiter auszubilden. Das von der Europäischen Union im Rahmen der Reaktion auf die Covid-19-Pandemie geförderte Programm läuft bis Ende dieses Jahres.
„Diese Maßnahmen reichen aber nicht aus“, erklärt Präsident Reichhold in seinem handwerkspolitischen Bericht. „Es darf nicht bei ambitionierten Ankündigungen zur Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung bleiben. Es muss mit mehr Nachdruck als bisher für eine echte Gleichwertigkeit gesorgt werden. Nur so könne ein politisches und gesellschaftliches Umdenken erreicht werden. „Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass etwas nicht stimmt, wenn akademische und berufliche Bildung als Zwei-Klassen-Gesellschaft behandelt wird.“ Klar sei aber auch, dass für die Transformation alle Talente gebraucht werden – egal, ob sie sich für den akademischen oder den beruflichen Bildungsweg entschieden.
Einer der wichtigsten Schlüssel, um mehr junge Menschen für eine Ausbildung im Handwerk zu gewinnen, so Reichhold, sei eine praxisorientierte Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen. „Hier wollen wir erreichen, dass Schülerinnen und Schüler in allen Schularten die duale Ausbildung als gleichwertigen Karriereweg zur akademischen Bildung kennenlernen und erfahren.“ Praktika in Betrieben seien eine wichtige Praxiserfahrung, die für Transparenz sorgen.
Genauso wichtig sei die Berufsorientierung an den weiterführenden Schulen, wo die Ausbildung als gleichwertige Alternative zur akademischen Bildung zu präsentieren sei. „Deshalb werden wir nicht müde, Eltern und Lehrern das Thema Berufsausbildung und die Karrieremöglichkeiten im Handwerk vorzustellen.“ Wer das Beste für die eigenen Kinder wolle, dem muss bewusst sein, welche Qualität eine handwerkliche Ausbildung hat und welche guten Zukunftschancen es für Einkommen, Sicherheit und sinnvolles Arbeiten im Handwerk gibt. Handwerksbetrieben, die nicht ausbilden, rät Reichhold aktiv in die Ausbildung einzusteigen und Praktikumswochen anzubieten. „Auch hier gibt es für uns selbst noch einiges zu tun.“
Der handwerkspolitische Bericht der Handwerkskammer ist online abrufbar unter www.hwk-stuttgart.de/politik