Rund 50.000 Frühgeborene kommen jährlich allein in Deutschland zur Welt. Zum Teil müssen sie über Wochen und Monate in Säuglings-Brutkästen, den sogenannten Inkubatoren, intensiv medizinisch betreut werden. Seit langem ist jedoch bekannt, dass den unreifen Babys dabei die räumliche Begrenzung und die vorgeburtlichen (pränatalen) sensorischen Reize durch die Gebärmutter (Uterus) fehlen. Dieser Mangel kann zu erheblichen Spätfolgen bei den Frühchen führen: Bei vielen Kindern kommt es im Laufe der weiteren Entwicklung zu sensorischen und motorischen Defiziten, die therapiert werden müssen.
Mit "ARTUS" wird die mütterliche Umgebung und Reizstimulation in einen Inkubator übertragen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts (ZIM-Projekt KF2136730KJ3) haben die Hohenstein Wissenschaftler einen ersten Prototyp entwickelt. In ihm werden akustische Reize wie der Herzschlag und die Stimme der Mutter ebenso an das Frühgeborene übertragen wie mechanische Eindrücke, die den sanften Bewegungen im Mutterleib entsprechen.
Derzeit beurteilen Neonatologen, d.h. Spezialisten für Neu- und Frühgeborene, in einer Anwendungsbeobachtung die Wirkung von ARTUS bei Frühchen. Ziel ist es dabei, das klinische Befinden der kleinen Patienten zu verbessern. Standardisiert beurteilbar ist dieses über Stress-Punktescores, u.a. den sogenannten Apgar-Score. Dabei werden die fünf Komponenten Herzfrequenz, Atemanstrengung, Reflexauslösbarkeit, Muskeltonus und Hautfarbe in regelmäßigen Abständen beurteilt und abhängig vom Ergebnis mit Punkten (0 = Merkmal fehlt; 1 = Merkmal nicht ausgeprägt; 2 = Merkmal gut vorhanden) bewertet.
Projektleiter Prof. Dr. Dirk Höfer von den Hohenstein Instituten geht davon aus, dass sich beim Einsatz von "ARTUS" der klinische Zustand von Frühgeborenen signifikant verbessern lässt: "In einem ersten Schritt sind wir aber schon zufrieden, wenn wir eine allgemeine Verbesserung des Zustandes der beobachteten Babys verzeichnen können. Gleichzeitig sollen unsere Prototypen dann vor Markteinführung noch entsprechend funktionell optimiert und an den Klinikalltag angepasst werden. Wichtige Aspekte haben wir aber bereits abgedeckt. So ist der sensorische Artificial Uterus desinfizierend waschbar und das Wirkprinzip nach dem die mechanischen Reize erzeugt werden, funktioniert ohne elektrische Zuleitungen usw., die schädliche Strahlungen erzeugen könnten."
Generell sind die Anforderungen an ein therapeutisches Medizinprodukt wie "ARTUS" hoch. So müssen zum einen über textile Materialeigenschaften wie Haptik, Elastizität und Widerstand die Bedingungen der Gebärmutter realitätsnah nachgeahmt werden. Hierzu ist die Auswahl von Fasermaterial und Flächenherstellung gezielt aufeinander abgestimmt worden. Zugleich wird der "künstliche Uterus" mit Hilfe eines motorischen Textilaktuators die sensorischen, motorischen und Gleichgewichtsreize vermitteln, um die Reifung des kindlichen Gehirns zu fördern. Diese frühen Wahrnehmungserfahrungen sind lebenslang prägend und für die senso-motorische Entwicklung frühgeborener Kinder enorm wichtig. Aus medizinischer Sicht sollten den Frühchen die Sinneseindrücke des Uterus unmittelbar nach der Frühgeburt angeboten werden. Kindern, die zu früh zur Welt kommen, fällt es oft schwer, sich im Raum zu orientieren, ihre Muskelspannung anzupassen und komplexe Bewegungsabläufe durchzuführen. Die Forscher gehen in ihrem Projekt sogar einen Schritt weiter und integrieren zugleich den Herzschlag der Mutter in den "künstlichen Uterus". Denn auch die Stimme und der Herzschlag der Mutter haben bekanntermaßen eine beruhigende Wirkung auf das Frühgeborene und stimulieren zugleich dessen Entwicklung. Derzeit befinden sich am Markt keine Medizinprodukte für Säuglings-Inkubatoren oder Hilfen mit denen sich die Lage der Säuglinge stabilisieren lassen, die eine sensorische Integrationstherapie ermöglichen. "ARTUS" ist damit der erste Textiltherapeut seiner Art, denn Inkubatoren bieten bislang ausschließlich gleich bleibende Temperatur, die notwendige Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffsättigung.
Die Hohenstein Forscher verfolgen mit diesem "Smart Textile" erstmals neue Therapieansätze zur senso-motorischen Prävention von Entwicklungsstörungen bei Frühgeborenen. Zur Umsetzung der Produktidee in die Praxis arbeiten die Wissenschaftler um Prof. Höfer zusammen mit den Industriepartnern Beluga-Tauchsport GmbH (Scheeßel), der Global Safety Textiles GmbH (Maulburg) und M. Zellner GmbH (Michelau in Oberfranken).