I. Kindheit
Der Humangenetiker und Arzt Dr. rer. nat. Dr. med. René Hägerling, Berlin, eröffnete das Vortragsprogramm. Als Einstieg in die Phase der Kindheit widmete sich sein Vortrag den genetischen Grundlagen hereditärer Lymphödeme und Lymphgefäßmalformationen. Neben defekten Lymphgefäßklappen und einem disruptierten Lymphgefäßnetzwerk gäbe es noch viele weitere mögliche Ursachen lymphatischer Dysfunktionen. In der Molekulargenetik gleiche die Diagnostik der Ursache der Suche nach einem einzelnen Tippfehler, der sich in einer Bibliothek versteckt, die mit 46 Bücherregalen mit je 23.000 Büchern bestückt ist. Dennoch sei es mit Hilfe der Genetik heutzutage möglich in rund 30 bis 40 % der Fälle zu einer Diagnose zu kommen. Um die jeweilige Unterform des Lymphödems zu finden, nutze man die gegenwärtige Klassifikation nach Cornell et al. Genetische Diagnostik komme zum Beispiel im Rahmen eines Kinderwunsches, pränataler Diagnostik oder der Zusammenstellung einer geeigneten Therapie zum Einsatz.
Die Ursachen für Ödeme bei Kindern beleuchte Prof. Dr. med. univ. Markus Rauchenzauner, Vogtareuth. Auch er betonte, wie wichtig die Suche nach der Ursache eines Ödems sei und welchen Beitrag die Genetik dabei zukünftig leisten könne. Er zeigte die Unterschiede zwischen dem nephrotischen und dem nephritischen Syndrom auf, welche häufig die Ursache von Ödemen im Kindesalter seien. Als weitere Ursache nannte er die Zöliakie. Diese Unverträglichkeit des Dünndarms gegenüber Gluten äußere sich bei Kindern durch häufigen Kopfschmerz und Bauchschmerzen. Eine Diagnose sei ohne Biopsie gut über die Blutdiagnostik möglich. Zur Behandlung diene eine Ernährungsumstellung. Generell sei bei Kindern eine erhöhte Aufmerksamkeit geboten, wenn Wachstumsstörungen vorlägen. Bei Säuglingen sei es wichtig, das propere Erscheinungsbild nicht mit einem Ödem zu verwechseln.
Über die Behandlung von Kindern mit lymphatischen Malformationen sprach der Internist und Angiologe Prim. Dr. med. Christian Ure, Wolfsberg, Österreich. Vorab berichtete er, dass im Sommer viele Kinder zur dreiwöchigen stationären Rehabilitation in Wolfsberg wären. Nach ISSVA würden vaskuläre Anomalien in die drei Gruppen vaskuläre Tumore, vaskuläre Malformationen und komplexe kombinierte vaskuläre Malformationen unterteilt. Fast 90 % der Lymphödeme hätten sekundäre Ursachen, nur 1 von 6.000 Kindern käme mit einem primären Lymphödem zur Welt. Anamnese, Inspektion und Palpation seien die Grundlage für eine Diagnose. In der OMIM-Datenbank seien neun häufige Ursachen vermerkt, bei denen man die Gen-Loki kenne. Bei der ICD-10-Codierung würden hereditäre Lymphödeme mit einer Q-Nummer und spontane Mutationen wie andere sekundäre Lymphödeme mit einer I-Nummer gekennzeichnet.
Welche Besonderheiten es bei der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie (KPE) bei Kindern zu beachten gebe, vermittelte Eva-Maria Streicher, München. Dabei hob die Physio- und Ödem-Therapeutin die Relevanz der 5. Säule der KPE, dem Selbstmanagement, hervor. Konkret ersetze die Schulung der Eltern das Selbstmanagement der Kinder, auch wenn dies in der Heilmittelversorgung bisher leider nicht vorgesehen sei. Spezielle Vorsicht sei bei Kindern unter dem 2. Lebensjahr beim Druck erforderlich. Bei Kleinkindern reiche ein Druck von 9 mmHg aus, um das Gewebe zu reanimieren. Früher wurden Kinder unter dem 2. Lebensjahr nicht behandelt. Heute nutze man diesen prägenden Zeitraum, in dem man bereits viel Gutes tun könne. Beim Komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) könne zum Beispiel eine sofortige Lymphdrainage die Veränderung komplett stoppen und helfe so einen langen Leidensweg zu vermeiden.
Der Vortrag von Prof. Dr. med. Nicole Lindenblatt, Zürich, widmete sich den operativen Möglichkeiten bei lymphatischen Malformationen, die zukünftig auch bei Kindern zum Einsatz kommen könnten. Zuerst erläuterte sie den Teufelskreis zwischen Ödem und Adipositas/Fettablagerung, den es zu durchbrechen gelte. Grundsätzlich komme die Lymphovenöse Anastomose (LVA) eher bei sekundären Lymphödemen in Betracht, während Lymphknotentransfers eher bei primären Lymphödemen eingesetzt würden. Sie zeigte verschiedene Entnahmestellen für Lymphgefäße mit ihren Vor- und Nachteilen für den Gefäß- und Gewebetransfer und verschiedene Roboter-assistierte Operationsmöglichkeiten. Die rekonstruktive Lymphchirurgie erhöhe die Lebensqualität und sei damit auch bei Kindern eine wichtige Option.
II. Adoleszenz
Seinen Vortrag rund um das Lipödem bei Teenagern eröffnete Prof. Dr. med. Christian Taeger, München, mit der Feststellung, dass sich die Ursachenforschung leider noch immer in den Kinderschuhen befinde. Bei Studien hapere es allgemein schon daran, geeignete Probanden zu finden, da eine eindeutige Diagnose fehle. Den Eingriff mittels Power-Assisted Liposuktion sei zwar nicht im Teenageralter, jedoch in einem frühen Stadium der Erkrankung anzuraten. Dabei sei es wichtig auf einen Schlag möglichst viel Fett abzusaugen, denn die Prozedur sei nicht unendlich wiederholbar. Die Fettabsaugung sei darum kein Anfängereingriff, sondern solle nur von erfahrenen Fachleuten ausgeführt werden. Bei der Lymphovenösen Anastomose (LVA) plädierte er für den Grundsatz Qualität vor Quantität: So sei eine perfekt geplante und sorgfältig durchgeführte Anastomose mehr wert als viele einzelne Anastomosen.
In ihrem Vortrag „Wenn ,Ess-Kapaden´ ins Gewicht fallen“ beleuchtete die Psychotherapeutin Gabriele Erbacher, Hinterzarten, die Zusammenhänge von Essverhalten, Adipositas und Lymphödemen. Dabei stellte sie klar, dass nicht jede Adipositas zwangsweise mit einer Essstörung verbunden sei. Typische Essstörungen seien Stress-, Frust- und Lustessen, Fressattacken und Grazing, bei dem ohne echtes Hungergefühl unzählige Mini-Mahlzeiten verzehrt werden. Die Ursachen liegen häufig in der Psyche. Schon im Säuglingsalter würde die Nahrungsaufnahme mit Nähe und Geborgenheit assoziiert. Zudem sei das Gehirn so programmiert, dass Essen als Ausweg aus Problemsituationen empfunden werde, was Essstörungen begünstige. Gerade bei jungen Mädchen würde die Waage häufig zum Messinstrument für den Selbstwert und, Essstörungen seien häufig auch ein SOS der Seele. Ihr Fazit: Essanfälle seien Lösungsversuche der Psyche und deren Ursachen ließen sich gut behandeln.
III. Erwachsenenalter
Die Vorgehensweise bei der Differentialdiagnose des adulten Ödems aus internistischer Sicht schilderte Dr. med. Sören Sörensen, Landshut. Dafür wählte er den Fall einer Patientin mit diversen Nebenerkrankungen, die verschiedene Medikamente einnehme. Als drei systemische Ursachen für Ödeme zähle er erhöhte Kapillarpermeabilität, erhöhten hydrostatischen Kapillardruck und erniedrigten onkologischen Druck auf. Eine Herz- oder Niereninsuffizienz führe häufig zu Beinödemen. Insgesamt litten fast zwei Millionen Menschen in Deutschland unter einer Nierenschwäche und auch die Zahl der an Diabetes Erkrankten sei in den vergangenen Jahren um 20 % gestiegen. Generell sei Bewegung eine wichtige Säule der Therapie. Das gelte selbst für Behandelte mit Herzinsuffizienz, soweit diese stabil sei.
Physiotherapeutin Karin Schiller-Moll, Aachen, beschrieb, welche Handlungsoptionen es bei Ödemen durch Bewegungsmangel gebe. Als Gründe für einen Bewegungsmangel nannte sie Gelenkversteifungen, Traumata, Schmerzen, Adipositas, aber auch neurologische oder psychische Erkrankungen wie Angstzustände. Da die Ursachen breit gestreut seien, sei es wichtig individuell zu agieren. Im Fallbeispiel einer MS-Patientin mit Gangstörung hätten die KPE und Kompression zu einer deutlichen Verbesserung der Trittsicherheit und Beweglichkeit geführt. Ein weiteres Fallbeispiel beschreibt einen Patienten, der das Haus überhaupt nicht mehr verlassen habe. Auch in diesem Fall hätten trotz Herzinsuffizienz mit Entstauung und Kompression schrittweise Erfolge erzielt werden können. Für eine erfolgreiche Therapie sei es wichtig realistisch zu bleiben und kleine Schritte mit erreichbaren Etappenzielen zu definieren.
Über Ödeme bei onkologischen Erkrankungen referierte Dr. med. Barbara Netopil, Königstein i. T. Unter den onkologischen Erkrankungen, die mit einer Ödematisierung in Verbindung stünden, sei das Mammakarzinom mit 26 % am häufigsten, gefolgt von Genitalkarzinomen bei Männern mit 19 % und Frauen mit 7 %. Bei Mammakarzinom hätten eine frühere Diagnostik und weniger radikale operative Eingriffe zu einer Reduktion postoperativer Lymphödeme der Arme geführt. Eine Bestrahlungstherapie erhöhe zwar das Risiko der Ödementstehung, reduziere jedoch das Rezidivrisiko. So entwickelten rund 25 % der Frauen im Anschluss an die Bestrahlung ein Mammaödem. Auch bei schweren Prostatakarzinomen, die eine radikale OP erforderten, komme es bei 45 % zu einer anschließenden Ödembildung.
Über die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit von Ödempatientinnen und -patienten informierte Dr. med. Jeanette Marell, Bad Nauheim. In der Versorgungsmedizin-Verordnung seien die einzelnen Erkrankungen und Einschränkungen mit den jeweiligen Prozentangaben zum Grad der Behinderung (GdB) geregelt. Zu beachten sei, dass sich Einschränkungen durch verschiedene Krankheitsbilder nicht aufsummierten. Bei der Beurteilung werde nur die Gesamteinschränkung berücksichtigt. Ab 50 % GdB spreche man von einer Schwerbehinderung. Ein Lymphödem ohne wesentliche Funktionseinschränkung habe einen GdB von 0-10 %, ein Lymphödem mit stärkerer Umfangsvermehrung (größer als 3 cm) einen GdB von 20-40 %. Trete eine Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit auf, liege der GdB bei 50-70 %, und wäre die betroffene Gliedmaße gebrauchsunfähig, liege dieser bei 80 %. Umfangsvermehrungen und Fibrosen sollten erfasst und angegeben werden. In Puncto Erwerbstätigkeit würden zwei Beurteilungen abgegeben. Die A-Beurteilung beziehe sich auf die letzte ausgeübte Tätigkeit, die B-Beurteilung auf eine allgemeine Erwerbsfähigkeit.
IV. Senium
Die wissenschaftliche Leiterin des Symposiums Dr. med. Michaela Knestele, Kaufbeuren, gewährte bewegende und aufschlussreiche Einblicke zum Management von Ödemen in der Palliativ-Versorgung. Bei sterbenskranken Menschen werde in der Ödembehandlung nur noch das umgesetzt, was die Lebensqualität positiv beeinflusse, den Alltag erleichtere oder auf persönlichen Wunsch der Behandelten erfolge. Viele Behandelte wollten auch gar nicht mehr behandelt werden, was die Situation zusätzlich erschwere. Das Vertrauensverhältnis zur physiotherapeutischen Fachkraft sei häufig für die Behandelten immens wichtig, so dass die manuelle Entstauung oft auch wegen des Körperkontaktes und zum Reden geschätzt werde. Als Fazit stellte Frau Dr. Knestele fest, dass sowohl die manuelle Lymphdrainage als auch eine Versorgung mit Kompression die palliative Arbeit unterstützen könnten.
Über Fallstricke in der Kompressionstherapie des älteren Menschen berichtete Dr. med. Ulrich Eberlein, Coburg. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland steige weiter und läge bei Frauen bereits bei über 83 Jahren und erreiche auch bei Männern fast schon 79 Jahre. Damit verbunden spielten Komorbiditäten, Polypharmazie und eine eingeschränkte Mobilität eine immer größere Rolle im Therapiealltag. Um die Adhärenz zu steigern, sei eine passgenaue Versorgung maßgeblich. Eine niedrige Kompressionsklasse und Anziehhilfen könnten die Therapietreue zusätzlich erhöhen. Außerdem spiele die Aufklärung eine entscheidende Rolle. So sollten Behandelte wissen, dass die Kompression die Beschwerden verringere und zur Vorbeugung eines Ulcus cruris diene. Allgemein gelte für ältere Menschen das Motto „Es sei wichtiger den Jahren mehr Leben zu geben als dem Leben mehr Jahre.“
Im direkten Anschluss nutzten zahlreiche Gäste die Möglichkeit, am Workshop „Die Kraft der Pumpe“ teilzunehmen. Darin wurde ein differenziertes Muskelaufbautraining zur Steigerung des venösen und lymphatischen Rückstroms vorgestellt. Kraft-Training verbessere die Muskelpumpe. Die Gelenkpumpe entfalte ihre volle Wirkung erst bei endgradiger Bewegung. Wichtigste Erkenntnis: Die Muskel- und Gelenkpumpe seien von der Pumpleistung dem Herz nicht unterlegen und könnten einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung des venösen und lymphatischen Rückflusses leisten.
Die Veranstaltung überzeugte durch namhafte Referentinnen und Referenten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie ließen die über 250 Gäste in der Wappenhalle das 13. Münchner Lymph-Symposium als praxisrelevante Fortbildung erleben. Die Vorbereitungen für das 14. Münchner Lymphsymposium am 06.07.2024 laufen schon wieder auf Hochtouren.
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