„Die derzeitige Situation ist nicht gerade geeignet, um großen Mut zu fassen für Europa“, begrüßte der Vorsitzende des WRO-Wirtschaftsbeirates, Nicolas Erdrich, den bekannten Wirtschaftsprofessor Otte. Eine Transferunion, ein Zusammenbleiben aus finanziellen Gründen oder aufgrund einer gemeinsamen Währung, sei keine auf Dauer tragfähige Grundlage. „Europa muss inhaltlich und gedanklich neu gedacht und vereint werden. Wenn die einen „Hü“ und die anderen „Hott“ rufen, dann teilt uns das mehr als es uns eint“, gab Erdrich in seiner Einführung zu bedenken.
Max Otte, deutsch-US-amerikanischer Ökonom, ging kritisch auf die derzeitige Finanz- und Wirtschaftspolitik in Europa ein. Er macht eine der größten Herausforderungen für Europa deutlich. „In einer Gesellschaft gibt es immer eine Nation, die dominiert und die Regeln festsetzt. Europa ist zwar die weltweit größte Wirtschaftsregion, bestimmt die Regeln jedoch nicht“, erklärt er am vergangenen Montag bei der WRO-Veranstaltung bei dem Unternehmen RMA in Kehl. Die Regeln geben in der heutigen Zeit viel eher die USA vor. Europa dagegen hänge den USA hinterher. Als Beispiel nannte Otte den Umgang der Europäischen Union mit Unternehmen wie Google und Facebook. Sie verstoßen regelmäßig gegen das europäische Datenschutzrecht, jedoch werde nichts dagegen unternommen. Dies müsse sich laut Otte ändern, damit Europa wieder zu der USA aufholen könne. TTIP und CETA steht Otte kritisch gegenüber, weil die Abkommen die europäische Wirtschaft in ihrer globalen Handlungsfreiheit einschränken.
Ein Indikator für den Wandel in der europäischen Wirtschaft sei laut Otte außerdem die Verdrängung des Bargelds. Der „War on Cash“, der Krieg gegen das Bargeld, habe begonnen. Hauptsächlich E-Commerce- und E-Pay-Unternehmen ziehen ihren Nutzen aus der Abschaffung des Bargelds. Das elektronische Bezahlen mache den Verbraucher für die Unternehmen zum einen transparent, zum anderen profitieren die Unternehmen von den anfallenden Transaktionsgebühren. Max Otte spricht sich gegen die Verdrängung des Bargelds aus und betont seine Vorteile: Bezahlen mit Bargeld sei praktisch und rechtssicher, aber vor allem auch anonymer als die bargeldlose Variante.
Doch nicht nur die Verdrängung des Bargelds zeige den Umbruch in Europa. Auch die unkontrollierte Migration nach Europa sei ein unkalkulierbares finanzielles Risiko. Otte kritisiert den Umgang der Politik mit der Migrationswelle. Allzu oft würden Einzelschicksale betrachtet, anstelle eines globalen Blicks auf die Erfordernisse einer gelungenen Zuwanderungspolitik. Dies berge die Gefahr, dass das geordnete Staatswesen durcheinander gebracht werde. Otte fordert darum die Einführung eines Einwanderungsgesetzes. Sinnvoller sei eine explizite Auswahl derjenigen, die bleiben dürfen. Zentrale Voraussetzung sei außerdem die Sicherung der Außengrenzen. „Die Außengrenzen eines Landes schützen zu wollen, darf kein Rechtspopulismus sein“, gibt Otte zu bedenken.
Neben der Flüchtlingsproblematik habe auch der Brexit Einfluss auf die Zukunft der Europäischen Union. Das Vereinigte Königreich hat sich im vergangenen Juni zum Ausstieg aus der EU entschieden. Den Brexit sieht Otte als Chance für Europa. Die Lösung aus dieser unsicheren Situation sei ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten mit einem homogenen Kerneuropa, das vorangehe. „Besonders die deutsch-französische Zusammenarbeit ist für Europa wesentlich“, so Otte. Die Möglichkeit des Austritts von einzelnen Staaten solle immer gelten. „Wenn es in einem Kessel kocht, muss man Dampf raus lassen“, verdeutlicht er die Situation in der Europäischen Union.