Von Tamara Wagner
Viele Mitarbeiter in deutschen Unternehmen kommen über einen Outsourcing-Deal zum ersten Mal mit indischer Alltags-Kultur in Berührung. Die wenigsten Europäer haben eigene Erfahrungen damit und stehen mit großen Fragezeichen vor teilweise grundlegenden Unterschieden. Neben technischen Fragen führen unterschiedliche Vorstellungen von Arbeitskultur immer wieder zu Verwirrungen und verhindern bei unzureichender Vorbereitung eine reibungslose Zusammenarbeit.
Mit klaren Rollenzuweisungen indischen Hierarchievorstellungen begegnen
Hierarchien haben in Indien einen deutlich höheren Stellenwert als in deutschen Unternehmen. Während in Deutschland Aufgaben und auch die dazugehörige Verantwortung an Experten delegiert werden können, ist dies in Indien anders. So ist es beispielsweise üblich, dass in einem Meeting fast ausschließlich die Kollegen mit der höchsten Position sprechen und die in der Hierarchie Tiefergestellten selbst dann nicht widersprechen oder eigene Vorschläge machen, wenn sie es besser wissen. Dies kann dazu führen, dass auch die deutschen Experten, die nicht der Hierarchiestufe ihres indischen Gegenübers entsprechen, nicht ernst genommen werden.
Entgegenwirken kann man diesem Verhalten, indem der deutsche (Provider-) Manager die einzelnen Kollegen vorstellt und ganz genau deren Rolle erklärt. So kann er z.B. klarstellen, dass sie bei einem bestimmten Thema in seinem Namen sprechen und seine Kompetenz haben. Transparenz und offensive Rollenzuweisung sind hier gefragt.
Indischen Kollegen sollten keine Aufgaben zugewiesen bekommen, die einem niedrigeren Tätigkeitsniveau entsprechen. Der indische Mitarbeiter wird in einem solchen Fall die Aufgabe wahrscheinlich nicht direkt ablehnen, aber auch nicht ausführen. Fingerspitzengefühl und gute Kommunikation mit einleuchtender Begründung sind hier gefragt.
Strenge Terminvorgaben fördern den Projekterfolg
Um auch in stressigen Projektsituationen mit engen Zeitvorgaben erfolgreich mit dem indischen Partner zusammenarbeiten zu können, ist ein sehr enges Nachverfolgen aller Aufgaben erforderlich. Je näher das geplante Erfüllungsdatum rückt, desto engmaschiger muss die Kontrolle werden. Das kann dazu führen, dass wöchentlich, möglicherweise aber sogar mehrmals am Tag nachgefragt wird. Auch wenn dies dem hiesigen Bild von selbständiger Arbeit widersprechen mag, ist es besonders in der ersten Phase der Transition erforderlich. Nach späterem gegenseitigen Kennenlernen können die Intervalle je nach Zuverlässigkeit erweitert werden.
Ein wichtiger kultureller Hintergrund dieses konfliktträchtig unterschiedlichen Umgangs mit dem Faktor Zeit ist ein sehr grundlegender: Inder haben ein grundsätzlich anderes Verständnis von „Zeit“. In Indien vergeht die Zeit nicht, sondern sie wiederholt sich. Dieses Verständnis spiegelt sich in vielen Bereichen des Lebens wider. Man kann mit einer Anleihe bei der Sprachwissenschaft illustrieren, was das bedeutet. So gibt es in der Leitsprache Hindi das Wort „kal“. Dieses bedeutet sowohl „morgen“ als auch „gestern“.
Erfahrung ist relativ
Fast die Hälfte aller Inder ist jünger als 25 Jahre. Viele Mitarbeiter indischer Provider sind technisch gut oder auch sehr gut ausgebildet, haben aber noch kaum Lebens- und Arbeitserfahrung. In einem Team-Meeting per Videokonferenz kann es also passieren, dass man hauptsächlich in die Gesichter Anfang 20jähriger blickt. Gerade aufgrund dieser mangelnden Erfahrung ist es wichtig, gute Prozess-Dokumentationen und Trainings zur Verfügung zu stellen und regelmäßig das fachliche Verständnis und die Arbeitsergebnisse zu überprüfen.
Hilfreich ist es auch, wenn der technische Hauptansprechpartner auf Seiten des Auftraggebers ebenfalls jung ist. Die indischen Partner tun sich dann leichter, Fragen zu stellen. Und sie haben weniger die Befürchtung, ihr Gesicht zu verlieren. Daneben ist es für beide Seite einfacher, über den Austausch persönlicher Botschaften ein kollegiales Verhältnis zu entwickeln und Themen neben der Arbeit zu finden.
Immer erreichbar sein? Arbeitszeiten sind ein großes Thema
Auch bei den Arbeitszeiten gibt es Unterschiede zwischen Deutschen und Indern. Dieser Aspekt führt allerdings eher auf Seiten des Providers zur Verwirrung. Inder haben im Allgemeinen deutlich weniger Urlaubstage und nehmen diese auch häufig nicht im vollen Umfang in Anspruch. Auch mehrwöchige Urlaube sind sehr ungewöhnlich. In diesem Zusammenhang spielt wieder die Hierarchie eine große Rolle – je niedriger, desto weniger Urlaub wird geduldet.
Verwundert zeigen sich Inder darüber, dass Deutsche in ihrem Urlaub und am Wochenende nicht erreichbar sind. Zur Verdeutlichung ein kurzes Praxisbeispiel, erzählt von einem deutschen Providermanager:
„Montags sollte ein neues Workflow-Tool eingeführt werden. Ab genau diesem Tag war allerdings auch der Manager des Auftraggebers im Urlaub, so dass eine Vertretungsregel eingerichtet werden musste. Wir haben dem indischen Verantwortlichen den Sachverhalt erklärt und er meinte, dass sei kein Problem, da das Tool inoffiziell bereits am Freitag vorher um 23 Uhr live geschaltet wird, so dass der Manager selbst dieses abnehmen könne. Außerdem sei es auch möglich, die Genehmigungen mobil, also während des Urlaubs zu erteilen. Auf unseren Hinweis, dass sein Urlaub bereits am Freitag mit Verlassen des Büros beginne und in dieser Zeit weder eine Erreichbarkeit per Mail noch mobil gewährleistet sei, waren die indischen Kollegen sehr verblüfft und zeigten deutlich ihr Unverständnis.“
Eine gute Vorbereitung hilft, kulturelle Unterschiede zu entschärfen
Sourcing Berater mit entsprechender Erfahrung in internationalen Konzernen machen immer wieder die Beobachtung, dass kulturelle Aspekte ihre Arbeit ebenso beeinflussen wie kaufmännische oder technische Fragen. Eine fundierte Ausbildung in internationalem Projektmanagement ist für den Projekterfolg ebenso hilfreich wie die Option, im Einzelfall auf spezialisierte Berater zurückgreifen zu können, die mit einem abgestimmten Workshopangebot die hiesigen Kunden auf ihre besondere Situation vorbereiten.
Als sehr gut für eine kollegiale und erfolgreiche Zusammenarbeit hat es sich herausgestellt, wenn die indischen Kollegen das deutsche Unternehmen besuchen können und auch deutsche Mitarbeiter den indischen Provider und dessen Arbeitsumgebungen vor Ort kennenlernen. Eine solche „Reisetätigkeit“ auch für Mitarbeiter aus der Linie ist kein Luxus sondern ein wirksamer Pluspunkt für die tägliche Arbeit. Für optimale Arbeitsergebnisse sollten diese Begegnungen mit der Transition beginnen und über die gesamte Vertragslaufzeit beibehalten werden.
Interkulturelle Zusammenarbeit ist eine Daueraufgabe
Die großen indischen Provider haben sich auf die hier dargestellten Unterschiede in der täglichen Zusammenarbeit natürlich auch schon eingestellt. Sie unterhalten in Europa eigenständige Verkaufsbüros und gestalten damit den Vertragsabschluss fachlich und kulturell kompatibel. In der Praxis werden dann aber auf beiden Seiten neue Teams und neue Akteure tätig und der Verständigungsprozess beginnt von vorne. Für eine klug vorbereitete und alltagstaugliche Annäherung der unterschiedlichen Arbeitskulturen finden deutsche Kunden bei ihren indischen Partnern bereitwillige Gesprächspartner. Sie müssen es nur zum Thema machen.
In jeder Partnerschaft, sei sie persönlich oder geschäftlich, ist der Wille, den anderen zu verstehen, eine Daueraufgabe. Mit Erfahrung und professioneller Vorbereitung können Unterschiede überbrückt werden. Und am Ende hilft die Erfahrung, dass meist weder Inder noch Deutsche nur eine Summe der gegenseitigen Klischees sind. Individuelle Fähigkeiten und Eigenschaften entschärfen oft die Gegensätze und machen die Zusammenarbeit möglich und erfreulich.