Die Einführung von Ganzjahresreifen schien längst überfällig, und doch haben die ersten Allwetterreifenmodelle vor mehr als 10 Jahren eher mäßiges Interesse hervorgerufen. Ein Reifen der zwei andere ersetzen kann? Das klingt für Autofahrer zunächst sehr überzeugend und vorteilhaft. Die „halbe“ Investition in der Anschaffung, die Zeit- und Kostenersparnis durch den zweimal jährlich entfallenden Saisonreifenwechsel sowie die nicht länger notwendige Einlagerung der Saisonräder wirken aus Verbrauchersicht als starke Argumente.
Auf der anderen Seite sehen Reifenspezialisten und Verkehrsexperten den Allwetter-Trend oft mit gemischten Gefühlen. Hier stehen nicht die Kosten im Fokus, sondern vielmehr die Aspekte der Sicherheit und Leistungsfähigkeit auch unter extremen Verhältnissen. Ebendiese Fahreigenschaften bei Hitze, Kälte oder Glätte begründeten seit jeher die strikte Trennung von Sommer- und Winterreifen – und sollten Reifenkäufer aus genau diesem Grund auch zur Vorsicht beim Ganzjahresreifenkauf aufrufen.
Alleskönner Allwetterreifen: Weites Einsatzspektrum, weniger Tiefgang
Sommerreifen verfügen für höhere Temperaturen über eine härtere Gummimischung, während das weiche Material von Winterreifen für stärkere Bodenhaftung speziell bei Kälte, Eis und Schnee konzipiert ist. Auch im jeweiligen Profil-Design und der Beschaffenheit der Lauffläche von Saisonreifen gibt es deutliche Kontraste, die besondere Kurvenhaftung auf heißem Asphalt oder kurze Bremswege auf Schnee letztlich ausmachen. Moderne Ganzjahresreifen sind rein technisch betrachtet Winterreifen, die zusätzlich über Eigenschaften für den Betrieb im Sommer bzw. über das gesamte Jahr hinweg verfügen. Als „Winterreifen“ im rechtlichen und technischen Sinne sind auch alle neuen Ganzjahresreifen per Gesetz dazu verpflichtet, das Alpinsymbol (3PMSF) zu tragen. Ältere Ganzjahresreifen verfügen an dieser Stelle lediglich über den Zusatz M+S (Matsch und Schnee) und zählen damit heute nicht mehr als vollwertige Winterreifen.
Aber sind All-Season-Pneus wirklich die Multitalente, die sie versprechen zu sein? Hendrik Salewski von Reifen24.de findet dafür ein klares Jein: „Multi ja, Talente nein. Zwar haben sich Qualität und Fahreigenschaften von Ganzjahresreifen in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt, aber es wäre utopisch zu erwarten, dass ein und derselbe Reifen bei -10 und +35 °C gleichermaßen angemessene Leistungen erbringen kann.“
Dennoch betont Salewski, wie bemerkenswert der Fortschritt von den frühen Allwetterreifen hin zu den heute hochentwickelten Premium-Ganzjahresreifen ist. „Die rapide Optimierung moderner All-Season-Reifen ist beispiellos und in Zukunft werden wir auf diesem Gebiet noch viel erwarten dürfen. Zum derzeitigen Stand bleibt aber zu sagen, dass die Entscheidung für oder gegen Ganzjahresreifen von mehreren individuellen Faktoren gelenkt werden sollte“, so der Rat des erfahrenen Reifenexperten.
Ein Reifen für alle Jahreszeiten – aber nicht für alle Anforderungen
Bei der Gegenüberstellung von Ganzjahresreifen zu Saisonreifen gibt es eine lange Pro- und Kontra-Liste. Neben einigen generellen Aspekten sind vor allem die persönlichen Anforderungen entscheidend. Dazu zählen unter anderem die jährliche Laufleistung, die regionalen Gegebenheiten, der Fahrzeugtyp und die Leistung sowie etwaige Besonderheiten, die den Alltag der Reifen betreffen.
Salewski verdeutlicht: „Wer in den Alpen oder im Mittelgebirge bei starkem Schneefall auf ein Allradfahrzeug angewiesen ist, sollte dieses definitiv nicht mit Ganzjahresreifen ausstatten. Das gilt bspw. auch für Autofahrer, die beruflich oder privat eine sehr hohe jährliche Laufleistung erreichen und dabei in unterschiedlichen Regionen unterwegs sind. Auch einen Anhänger würde ich im tiefen Winter nicht mit Ganzjahresreifen ziehen“. Das sind nur einige Beispiele, mit denen der Reifenexperte seine Kernaussage unterstreicht.
Unter anderen Rahmenbedingungen dürfe man Ganzjahresreifen aber durchaus als eine adäquate Alternative betrachten: „Kompakte PKW, die generell eher wenig bewegt werden, meist im Stadtverkehr, im Winter auf geräumten Straßen sowie in flachen Regionen unterwegs, können guten Gewissens mit Ganzjahresreifen bestückt werden. Auch für Autos mit H-Kennzeichen oder andere Liebhaberfahrzeuge, die meist im Sommer und nur selten im Winter bewegt werden, können Allwetterpneus eine gute Wahl sein“.
Gute Wahl für alltägliche Zwecke
In den Absatzzahlen können Ganzjahresreifen den Sommer- und Winterpneus mittlerweile die Stirn bieten. Vielmehr noch liegen die Allrounder weit in Führung, wie Salewski berichtet. In der aktuellen Sommersaison (2023) sind weit über 70 % der bei Reifen24.de bestellten Pneus Ganzjahresreifen, wohingegen sich das Sommerreifen-Aufkommen derzeit unter 5 % bewegt.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass seit einigen Jahren neben vielen eher unbekannten Reifenherstellern auch die etablierten Marken wie Michelin, Continental oder Goodyear in der Entwicklung von All-Season-Tires mitspielen. Immer bessere Testergebnisse der Premiumreifen gaben der jungen Reifenkategorie einen regelrechten Schub. Das Vertrauen in die Alleskönner wächst stetig und für eine zunehmende Zahl von Reifenkäufern überwiegen die Vorteile der Ganzjahresreifen gegenüber den Vorurteilen und Nachteilen längst.
„Der Ruf als schlechte Kompromisslösung ist heute in den meisten Fällen überholt“ betont Salewski und weist dabei mitunter auf viele aktuelle Ganzjahresreifen-Tests hin. „Bei bestimmten Testkriterien kommt es sogar vor, dass Ganzjahresreifen besser performen als vergleichbare Saisonreifen.“ Ein zentraler Aspekt bleibt aber, dass Qualität bzw. der Hersteller und Preis ausschlagegebende Kriterien bilden – und in diesem Punkt unterscheiden sich universelle Allwetter- und spezielle Saisonreifen nicht. „Wenn man sich für die eine kombinierte Lösung entscheidet, statt in zwei Sätze Saisonreifen sowie regelmäßigen Radwechselaufwand zu investieren, sollte man an den Ganzjahresreifen nicht sparen. Bestenfalls sollte direkt auf Premiumreifen oder etablierte Markenqualität gesetzt werden, die sich dann auch nachhaltig bemerkbar macht und lange Zeit Freude am sicheren Fahren spendet“, rät der Reifen24.de Geschäftsführer.
Fazit: Vorteile schlagen Vorurteile – Ganzjahresreifen sind gereift
Dass die Reifen fürs ganze Jahre die komfortablere und ökonomischere Wahl sind, liegt auf der Hand. Zu bedenken bleibt aber, dass diese auch unermüdlich im Einsatz sind und keine halbjährige Pause einlegen. In Kombination mit der weicheren Materialmischung im Vergleich zu Sommerreifen kann der Verschleiß im Sommer – wie auch absolut betrachtet – deutlich hoher ausfallen.
Zudem müssen sich Reifenkäufer vor Augen führen, wo sie ihre Prioritäten setzen und wo ggf. Kompromisse in Kauf genommen werden. Denn die bequeme und günstigere Lösung kann nicht gleichzeitig auch die leistungsstärkste sein. Doch nicht überall und für jedermann muss das Maximum an Performance geboten sein. Erfahrungen zeigen: „Im flachen und wärmeren Norden Deutschlands ist das Interesse an den Allround-Reifen deutlich höher als im bergigen Süden. Viele Autofahrer haben das Prinzip der Ganzjahresreifen verstanden und ein Gefühl dafür entwickelt, wann diese zweckmäßig sind und wo sie den Vollblut-Winterreifen (noch) nicht das Wasser reichen können“, so Salewski.