Pfingsten in Baden-Württemberg: Bei schönem Wetter mit viel Sonnenschein aber auch reichlich Wind wird jede Menge Strom aus Erneuerbaren erzeugt. Da gleichzeitig viele Menschen und Betriebe Ferien machen, ist der Energieverbrauch gering. Um ein entstehendes Ungleichgewicht zwischen starker Erzeugung und schwachem Verbrauch zu verhindern, können gezielte Eingriffe in die Erzeugung notwendig werden. Das Szenario erfordert die Zusammenarbeit aller Netzbetreiber. Die zentrale Frage lautet: Wie organisiert man Netzstabilität in einem sich grundlegend wandelnden Stromversorgungssystem? Das ist eine Herausforderung, die im Rahmen des Projekts C/sells angegangen wird. Darin werden skalierbare Musterlösungen für eine nachhaltige Energieversorgung entwickelt.
Jeder Netzbetreiber ist gemäß VDE-Anwendungsregel verpflichtet, sein eigenes Netz sowie die der vorgelagerten Netzbetreiber stabil zu halten. Der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) verantwortet die System- und Frequenzstabilität. Daher muss er Einblick in die lokale Last- und Erzeugungssituation erhalten.
Direkter Informationsaustausch über alle Ebenen
Die C/sells-Projektpartner haben dafür ein Infrastruktur-Informationssystem entwickelt und aufgebaut. Das System macht die aktuelle Netzsituation für alle Beteiligten auf allen Ebenen transparent. Da ein Informationsaustausch via E-Mail zu langsam und störanfällig ist, wurde eine direkte Kopplung über eine gesicherte Verbindung zwischen den beteiligten Netzführungssystemen realisiert. Über die Schnittstelle kann der anfordernde Netzbetreiber den nachgelagerten Netzbetreiber zum Beispiel auffordern, die Einspeisung von Kraftwerken zu reduzieren.
Die Visualisierung der Netzzustände erfolgt über ein Ampel-System. In der grünen Ampelphase (alles ist im Gleichgewicht) agiert jeder Netzbetreiber selbstständig nach seinen eigenen Erfordernissen. In der gelben Ampelphase (Ungleichgewichte kündigen sich in den Erzeugungs- und Lastprognosen an) können die Netzbetreiber sowohl eigene netztechnische Maßnahmen ergreifen als auch miteinander abgestimmte Optimierungsschritte unternehmen. Bei gelber Ampel kommen beispielsweise ab Oktober 2021 Redispatch-2.0-Maßnahmen zum Einsatz.
Kaskade bei roter Netzampel
Eine rote Ampel signalisiert ein akutes Netzproblem, das einen Ad-hoc-Eingriff erfordert. Dieser wird über den Kaskadenprozess koordiniert. Die Kaskade beinhaltet ein über alle Stromnetzebenen hinweg abgestimmtes und automatisiertes Vorgehen. Es erlaubt dem ÜNB, bei akuter Netzüberlastung Windenergie- und Fotovoltaikanlagen vorübergehend abzuschalten.
Der Kaskadenprozess ist Bestandteil des C/sells-Projekts. Diesen haben die Projektpartner TransnetBW, Netze BW und Stadtwerke Schwäbisch Hall am Beispiel eines fiktiven Systembilanzproblems beim ÜNB TransnetBW im Rahmen einer Veranstaltung Ende Oktober simuliert.
Die Maßnahmenübergabe findet im Kaskadenprozess top-down statt. Das heißt, der ÜNB hat die Abschaltungsanforderung an den Verteilnetzbetreiber erster Ordnung, die Netze BW, weitergeleitet, da er das Netzproblem nicht lösen konnte. Weil dieser im Testszenario auch keine Lösung fand, landete die Anforderung im Leitsystem der Stadtwerke Schwäbisch Hall, Verteilnetzbetreiber zweiter Ordnung. Dort wurden Fotovoltaikanlagen und Windparks physisch abgeschaltet und damit der Netzengpass behoben.
Insbesondere waren an der Demonstration Erzeugungsanlagen beteiligt, die mit Smart-Meter-Gateways und FNN-Steuerboxen ausgerüstet sind. Die Ansteuerung erfolgte über die Koordinierungsfunktion des Netzführungssystems der Schwäbisch Haller Stadtwerke. Die Simulation bei der Veranstaltung bewies, dass der Kaskadenprozess funktioniert.
Komplexität beherrschbar machen
Alle Beteiligten lobten die gute „vertikale“ Zusammenarbeit im C/sells-Projekt. Peter Breuning, Abteilungsleiter Netzleittechnik der Stadtwerke Schwäbisch Hall, stellte fest: „Wenn man alle Vorbehalte über Bord wirft, kann man so etwas gemeinsam schaffen. Wir haben alle nur ein Netz – eben mit verschiedenen Playern.“
Helmfried Meinel, Ministerialdirektor und Amtschef im Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft des Landes Baden-Württemberg, führte zuvor per Video-Grußbotschaft in die Wichtigkeit der Versorgungssicherheit für den Süden von Deutschland ein.
Dr. Werner Götz, Vorsitzender der TransnetBW-Geschäftsführung, sagte in seiner Video-Grußbotschaft: „Es ist ein schönes Beispiel dafür, dass Übertragungsnetzbetreiber und Verteilnetzbetreiber Hand in Hand wirken, um die Komplexität der Zukunft beherrschbar zu machen. Mich erfüllt es mit Stolz, dass diese Zusammenarbeit erfolgreich funktionieren kann.“
Ronald Pfitzer, Geschäftsführer der Stadtwerke Schwäbisch Hall, hob für sein Unternehmen hervor: „Es ist uns eine besondere Freude, mit den relevanten Partnern in Baden-Württemberg bei einem solchen Leuchtturmprojekt dabei zu sein.“
Über C/sells
C/sells ist Teil des Förderprogramms „Schaufenster intelligente Energie – Digitale Agenda für die Energiewende“ (SINTEG) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Ziel ist es, in großflächigen „Schaufensterregionen“ skalierbare Musterlösungen für eine umweltfreundliche, sichere und bezahlbare Energieversorgung bei hohen Anteilen erneuerbarer Energien zu entwickeln und zu demonstrieren.
Im Zentrum stehen dabei die intelligente Vernetzung von Erzeugung und Verbrauch sowie der Einsatz innovativer Netztechnologien und-betriebskonzepte. Innerhalb der größten SINTEG-Modellregion demonstriert C/sells mit 59 Partnern aus Wissenschaft, Industrie und Netzbetrieb bereits heute, wie die flächendeckende Umsetzung der Energiewende und der Ausbau erneuerbarer Energien funktioniert. Dabei entwickeln und demonstrieren die Projektpartner das Zusammenwirken von sogenannten Zellen innerhalb des durch die Energiewende vorgezeichneten, zukünftigen Energiesystems. Damit entsteht die Blaupause des Energiesystems von morgen, in dem die Energiewende-Ziele der Bundesregierung verwirklicht sind. Mehr Informationen unter www.csells.net.