- Trotz erhöhter Inflation Zinswende mit Augenmaß erwartet
- Steigende Renditen am Rentenmarkt, aber kein „Bond-Crash“
- Robuster wirtschaftlicher Aufschwung unterstützt Gewinne bei Aktien
- Rohstoffe profitieren nicht nur von geopolitischen Spannungen
Die ersten Handelswochen 2022 gaben laut Wilhelm einen Vorgeschmack auf die bevorstehenden Monate. „Die hohe Inflation hält sich hartnäckiger als gedacht und zwingt die Zentralbanken zu schnellerem Handeln“, erläuterte er. Die überraschend zügige Einleitung der geldpolitischen Wende hat seit Jahresanfang zu spürbar anziehenden Renditen bei sicheren Staatsanleihen geführt. „Für die Kapitalmärkte fehlt der Rückenwind der ultralockeren Geldpolitik der letzten Jahre. Darauf reagieren die Bewertungen auch bei anderen Anlageklassen wie Aktien sensibel.“ Als verlässliche Marktstütze erwiesen sich hingegen die robusten Konjunkturdaten sowie die solide Ertragslage der Unternehmen. „Das Spannungsfeld zwischen guter Fundamentalentwicklung und steigenden Zinsen wird dieses Jahr weiter prägen“, prognostizierte Wilhelm.
Volatile Märkte zwischen geldpolitischer Normalisierung und Hochdruckzyklus
Anhaltende Unterstützung erwartete er von der Wachstumsseite. „Die Weltwirtschaft wächst weiter dynamisch und durchläuft gerade einen Hochdruckzyklus.“ In den Vereinigten Staaten dürfte das Bruttoinlandsprodukt 2022 um 3,7 Prozent zulegen, im Euroraum sogar um 4,1 Prozent. Damit sollten beide Wirtschaftsräume erneut über ihrer Potenzialrate wachsen. Entscheidend wird sein, wie rasch und vor allem wie weit die Zentralbanken die Zinsen nach oben schleusen müssen, um Inflationsgefahren im Griff zu behalten. Der geldpolitische Zyklus hat zuletzt schneller gedreht als erwartet. An das neue geldpolitische Regime passen sich die Märkte gerade noch an. „Die große Frage lautet, ob die Zentralbanken über das erwartete Maß hinaus straffen müssen, um vor die Kurve zu kommen und damit potenziell den Aufschwung gefährden“, erklärte Wilhelm.
Zinswende mit Augenmaß
Seiner Ansicht nach dürften Entspannungen bei der Inflation im Jahresverlauf unter anderem durch eine abnehmende Lieferkettenproblematik dafür sorgen, dass sich der Zinserhöhungszyklus nicht weiter beschleunigt. „Wir rechnen im September 2022 mit einem Stopp der EZB-Anleiheankäufe“, erläuterte er. „Nach elfeinhalb Jahren dürfte es im Dezember so weit sein, dass im Euroraum der Leitzins wieder steigt.“ Etwas zügiger sollte die geldpolitische Normalisierung in den USA ablaufen. Dort rechnet Wilhelm für 2022 mit insgesamt fünf Leitzinsanhebungen von jeweils 25 Basispunkten. Außerdem dürfte die US-Notenbank Fed in der zweiten Jahreshälfte mit dem Abbau ihrer Bilanzsumme beginnen, indem sie fällig werdende Anleihen nicht reinvestiert. „Mit einer solchen geldpolitischen Normalisierung können die Kapitalmärkte gut umgehen, zumal die Geldpolitik damit dann immer noch historisch locker bliebe“, fasste Wilhelm seine Erwartung zusammen.
„Die aktuell hohe Teuerung ist auch auf eine Mischung aus coronabedingten Sonderfaktoren und hohen Energiepreisen zurückzuführen. Der Preisdruck wird aber nicht dauerhaft so stark bleiben, sondern zunächst wieder abnehmen“, meinte Wilhelm. Allerdings rechnet er nicht mit Rückgängen auf alte Niveaus. „Wir werden uns nach dem Ende der Corona-Pandemie an eine etwas höhere Inflation gewöhnen müssen.“ Für die Eurozone erwartet Wilhelm einen Anstieg des Verbraucherpreisindex um 4,5 Prozent im Jahresdurchschnitt, gefolgt von nur noch 1,7 Prozent 2023. Für Deutschland prognostizierte er Werte von 4,3 Prozent (2022) beziehungsweise 2,0 Prozent (2023).
Steigende Renditen, aber kein „Bond-Crash“
An den Kapitalmärkten ging Wilhelm von einer Fortsetzung des Trends anziehender Renditen bei sicheren Anleihen aus. „Wir rechnen mit weiter steigenden Renditen in den ‚sicheren Häfen‘, aber nicht mehr im Tempo der vergangenen Wochen.“ Ende 2022 erwartet der Kapitalmarktstratege bei zehnjährigen Bundesanleihen Renditen von 0,35 Prozent, bei laufzeitgleichen US-Treasuries Renditen von 2,1 Prozent. „Mit sicheren Anleihen lassen sich 2022 keine positiven Realrenditen erwirtschaften“, folgerte Wilhelm und riet deshalb den Anlegern, sich nach Alternativen umzuschauen. Anleihen aus der Euro-Peripherie hält er dabei nur noch für bedingt aussichtsreich. „Die wirtschaftliche und politische Entwicklung ist gut, aber die Renditen stehen durch den Rückzug der EZB als Käufer vom Anleihemarkt unter Aufwärtsdruck“, erklärte er.
Das Segment der Unternehmensanleihen steht im Spannungsfeld von weiterhin hoher Kreditqualität und den Anpassungsschmerzen gegenüber einem geänderten geldpolitischen Regime mit abnehmender Liquidität. An den Kreditmärkten gilt es, zukünftig noch selektiver vorzugehen. Interessant scheinen ausgesuchte kurzlaufende hochverzinsliche Papiere und Anleihen aus Regionen, in denen der Zinserholungszyklus bereits weit fortgeschritten ist. „Für risikobereite Investoren bietet Osteuropa interessante Möglichkeiten“, nannte Wilhelm ein Beispiel.
Gewinne unterstützen Aktien
Die größten Chancen sieht Wilhelm weiter bei Aktien und Rohstoffen. „Die Berichtssaison hat die robuste Gewinndynamik erneut bestätigt. Fundamental ist der Aktienmarkt in einer guten Verfassung“, sagte er. Aber: „Steigende Zinsen setzen die Bewertungen unter Druck und begrenzen das Kurspotenzial.“ Mit Blick auf Stile, Regionen und Branchen riet er zu einem balancierten Ansatz. „Die Attraktivitätsunterschiede zwischen Value und Growth beginnen sich zu nivellieren“, konkretisierte Wilhelm. „Aktives Stock-Picking bleibt entscheidend für den Anlageerfolg, denn am Ende kommt es auf die Situation des jeweiligen Unternehmens an.“ Besondere Chancen sieht Wilhelm bei Unternehmen mit Geschäftsmodellen, die von der nachhaltigen Transformation profitieren. „Dieser Megatrend steht erst am Anfang und wird erhebliche Gewinnpotenziale eröffnen“, ist er überzeugt.
Hochdruckzyklus und nachhaltige Transformation als Booster für Rohstoffe
Die Wirkungen dieses „grünen Umbaus“ der Volkswirtschaften sieht Wilhelm nicht auf Aktien begrenzt. Auch die benötigten Rohstoffe dürften weiter zulegen, insbesondere die von einigen Industriemetallen. Gerade der Umstieg von Verbrennern auf Elektromotoren in der Automobilindustrie wirkt sich hier deutlich aus. „Für ein Elektrofahrzeug werden ganz andere Metalle gebraucht als für einen klassischen Verbrenner. Die Nachfrage nach Kupfer und Nickel sollte daher in den kommenden Jahren gut unterstützt bleiben.“ Gleichzeitig haben viele Rohstofffirmen in den letzten Jahren Investitionen deutlich zurückgefahren, und das Angebot hat sich verknappt. „Die Mischung aus angestiegener Nachfrage und stagnierendem Angebot führt zu Marktdefiziten und Preiszuwächsen bei vielen Rohstoffen. Diese Situation wird auch 2022 anhalten“, erläuterte Wilhelm.
Immobilien bleiben wichtiger Anlagebaustein
Immobilien hält der Kapitalmarktstratege angesichts des insgesamt weiter robusten konjunkturellen Ausblicks und des niedrigen Zinsniveaus nach wie vor für einen wichtigen Baustein im Depot. Im laufenden Jahr erwartet er eine Fortsetzung der Erholung von den Folgen der Pandemie, sowohl bei den Investment- als auch bei den Vermietungsmärkten. „Es bieten sich in den besonders pandemiebetroffenen Sparten Chancen, zum Beispiel im Hotelbereich. Gerade hier gilt es aber, auf die Krisenresilienz der Objekte zu achten“, meinte er. In diesem Zusammenhang verwies Wilhelm außerdem auf die anhaltende Robustheit von Wohnimmobilien, die von den Verwerfungen der Pandemie kaum betroffen waren.
„Nicht nur der deutschsprachige Raum, auch das restliche europäische Ausland sowie die USA sind interessante Wohnimmobilienmärkte“, sagte er.
Robustes Wachstum, mehr Inflation und ein neues geldpolitisches Regime
„Das komplexe Wechselspiel zwischen Pandemie, Wachstum und Inflation sowie Notenbanken sorgt weiter für Volatilität“, analysierte er und rechnet für 2022 mit schwankungsanfälligen Börsen. Und für die Zeit nach dem Übergang prognostiziert der Kapitalmarktstratege: „Das Post-Corona-Zeitalter wird sich von den vergangenen Kapitalmarktjahren deutlich unterscheiden. Wir werden mit anderen geopolitischen, wirtschaftlichen und geldpolitischen Bedingungen konfrontiert werden, die bei erhöhter Volatilität mehr Aktivität und Flexibilität in den Anlageentscheidungen erfordern“, schloss Wilhelm.